Das Kind der Rache
als Marsh ihn auf die Dürftigkeit
solcher Informationen hinwies. »Eigentlich sind die
Programme nicht für das menschliche Auge bestimmt«, fügte
er hinzu. »Nur der Computer kann die Fülle der Daten richtig
lesen. Achten Sie deshalb nicht auf die Zahlen, sie haben nichts
zu bedeuten.«
»Nichts von dem, was Sie mir bisher erklärt haben, Dr.
Torres, hat etwas zu bedeuten«, sagte Marsh zornig. »Sie haben
uns zu sich bestellt, um uns Aufschluß zu geben, was mit Alex
los ist, aber bisher sind Sie dem Thema ausgewichen. Ich stelle
Sie jetzt vor die Wahl: Entweder Sie sagen uns hier und jetzt
die ganze Wahrheit, oder wir sehen uns vor Gericht wieder.
Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Bevor Dr. Torres ihm etwas entgegnen konnte, begann das
Telefon zu läuten. Er nahm den Hörer ab. »Ich sagte doch, ich
will unter keinen Umständen gestört werden.« Er lauschte ein
paar Sekunden in die Muschel, dann reichte er Marsh den
Hörer. »Für Sie«, sagte er. »Die Polizei.«
»Hier Dr. Lonsdale«, meldete sich Marsh. »Um was geht
es?«
Er hörte zu, was der Mann am anderen Ende ihm zu sagen
hatte. Als er auflegte, war sein Gesicht aschfahl geworden.
Seine Hände zitterten.
»Marsh...« sorgte sich Ellen. »Marsh, was ist passiert?«
»Es ist wegen Alex«, sagte Marsh. Tiefe Niedergeschlagenheit klang aus seiner Stimme. »Sergeant Finnerty ist auf der
Suche nach Alex, er will den Jungen vernehmen.«
»Noch einmal?« fragte Ellen. Das Herz schlug ihr bis zum
Halse. »Warum denn?«
Marsh hielt den Blick auf Dr. Torres gerichtet. »Der Sergeant sagt, Cynthia und Carolyn Evans sind umgebracht
worden. Er hat Grund zu der Annahme, daß Alex der Täter
ist.«
Ellen schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Raymond
Torres war aufgesprungen. »Wenn er das wirklich gesagt hat,
dann ist er ein Idiot.«
»Ich kann nicht beurteilen, ob der Sergeant ein Idiot ist«,
sagte Marsh leise. »Aber eines weiß ich ganz sicher. Sie, Dr.
Torres, schulden mir Aufklärung. Bitte, sagen Sie mir endlich,
was für eine Operation Sie bei Alex durchgeführt haben.«
»Ich habe ihm das Leben gerettet«, erwiderte Torres. Es war
das erstemal, daß in seiner Stimme so etwas wie Anteilnahme
mitklang. »Was die Polizei dem Jungen vorwirft, macht keinen
Sinn. Alex kann niemanden töten.«
Und dann erklärte er Marsh und Ellen mit viel Geduld die
Einzelheiten der Operation, die er in jener Nacht bei ihrem
Sohn vorgenommen hatte.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Dr. Torres' Vortrag hatte eine volle Stunde gedauert. Ellen
hatte den Erklärungen, die mit medizinischen Details gespickt
waren, nicht ganz folgen können. Sie hatte nur verstanden, daß
ihr Sohn in höchster Gefahr war. Als der Chirurg seine
Erklärung unterbrach, wandte sie sich mit zitternder Stimme an
ihren Mann. »Marsh, was hat das alles zu bedeuten?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Marsh. »Ich weiß nur eines: Was
Dr. Torres da eben gesagt hat, ist medizinisch unmöglich.«
»Ich kann Sie nicht zwingen, mir zu glauben, Dr. Lonsdale«,
warf Raymond Torres ein, »aber was ich Ihnen gesagt habe, ist
die reine Wahrheit. Die Tatsache, daß Ihr Sohn noch lebt, ist
der beste Beweis.« Die Grimasse eines Lächelns spielte um
seine Lippen. »Ich erinnere mich, daß Sie mir nach Alex'
Operation sagten, ich hätte ein Wunder vollbracht. Sie meinten
damit wahrscheinlich ein medizinisches Wunder. Ich habe Sie
nicht über Ihren Irrtum aufgeklärt. Was ich damals in der Tat
vollbracht habe, hat mit Medizin nur am Rande zu tun. Es war
ein technologisches Wunder.«
»Weder das eine noch das andere«, sagte Marsh. »Was Sie
gemacht haben, ist Gotteslästerung. Ein Verbrechen.«
Ellen schössen die Tränen in die Augen. »Aber unser Junge
lebt, Marsh«, flüsterte sie.
»Bist du sicher? Nach welchen Kriterien willst du das
beurteilen? Wenn Dr. Torres eben die Wahrheit gesagt hat, war
Alex nach dem Unfall klinisch tot.« Er bedachte den Chirurgen
mit einem feindseligen Blick. »Habe ich Sie in diesem Punkt
richtig verstanden?«
Torres nickte. »Das Gehirn Ihres Sohnes zeigte nach dem
Unfall keine Funktionen mehr. Das Herz schlug noch, das war
alles. Wir mußten ihn künstlich beatmen, sonst wäre er erstickt.
Ich habe ihn vor der Operation genau untersucht. Ich konnte
dabei keinerlei Gehirnströme mehr feststellen.«
»Mit anderen Worten, sein Gehirn war tot. Richtig?«
»Es war nicht nur tot, es war so zerstört, daß alle chirurgischen Maßnahmen zwecklos gewesen wären. Das
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