Das Kind der Rache
vorstellen, daß
dein Vater davon Kopfschmerzen bekommt?«
Lisa wälzte sich auf die andere Seite, stützte den Kopf auf
und sah ihre Mutter an. »Es ist wegen Alex. Er ist so
merkwürdig verändert. Manchmal meine ich, ich habe es mit
einem Verrückten zu tun. Er nimmt alles, was man sagt,
wörtlich. Er versteht überhaupt keinen Spaß mehr.«
Ihre Mutter nickte. »Ich weiß, was du sagen willst. Du mußt
Geduld mit ihm haben. Er wird über die ganze Sache
hinwegkommen.«
Lisa richtete sich auf und nahm auf der Bettkante Platz.
»Und wenn nicht?« fragte sie. »Es ist alles so furchtbar,
Mutter.«
»Was ist denn so furchtbar?« wollte Carol wissen.
»Die Freunde reden über Alex. Sie lästern darüber, daß er
Fragen stellt wie ein kleines Kind.«
»Wir wissen doch, warum er das tut«, erwiderte Carol.
Lisa nickte. »Natürlich wissen wir das. Aber das macht die
Sache nicht leichter.«
»Leidest du sehr darunter?«
»Ja«, flüsterte Lisa. »Ich bin es wirklich leid, daß ich Alex
jede Kleinigkeit wieder und wieder erklären muß. Und das ist
noch nicht alles...«
»Was denn sonst noch?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er mich überhaupt noch lieb hat.
Er vermeidet es, mich zu berühren. Seit er den Unfall hatte, hat
er mir keinen Kuß mehr gegeben. Er ist kühl wie Eis.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, seufzte ihre Mutter.
»Du solltest das allerdings nicht persönlich nehmen. Alex ist zu
den anderen Menschen genauso kühl wie zu dir.«
»Ich sehe nicht, wie mich das trösten könnte.«
»Ich verstehe, was du empfindest, mein Kind.« Carol wußte
nicht recht, was sie ihrer Tochter raten sollte. »Was mich
angeht«, sagte sie nach einer Weile, »ich werde diesen Jungen
genauso behandeln wie früher. Ich habe mich damit
abgefunden, daß er keine Emotionen zeigt. Möglicherweise
wird er nie wieder das haben, was man als Gefühle bezeichnet.
Alex ist gewissermaßen ein Krüppel. Aber er ist immer noch
Alex, der Sohn meiner besten Freundin. Wenn seine Mutter die
Situation bewältigen kann, dann können wir es auch.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, warf Lisa ein.
»Du brauchst dich zu nichts zu zwingen«, sagte ihre Mutter.
»Wenn du nicht mehr mit Alex gehen willst, läßt du es bleiben.
Du bist erst sechzehn, und es besteht kein Grund, warum du
deine Zeit unbedingt mit diesem Jungen vertun mußt. Es gibt
genügend andere junge Männer in La Paloma, mit denen du
freundschaftlich verkehren kannst.«
»Aber ich kann Alex doch nicht fallenlassen«, protestierte
Lisa.
»Ich habe nicht gesagt, daß du ihn fallenlassen sollst«, gab
Carol zurück. »Du sollst tun, was für dich am besten ist. Wenn
du dich in Alex' Gesellschaft nicht wohl fühlst, dann solltest du
ihn meiden. Du brauchst deswegen kein schlechtes Gewissen
zu haben.«
Lisas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich komme mir so
schlecht vor«, sagte sie. »Ich weiß nicht mal, ob ich ihn noch
liebe. Vielleicht bin ich auch nur verletzt, weil er mich nicht
beachtet. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Manchmal
hängt es mir zum Halse raus, daß ich ihn dauernd vor den
anderen in Schutz nehmen muß. Und dann habe ich wieder
eine wahnsinnige Wut auf unsere Freunde, weil sie auf Alex
herumhacken. Wie soll das weitergehen?«
»Ich rate dir, den Dingen ihren Lauf zu lassen«, sagte Carol.
»Kommt Zeit, kommt Rat.«
Lisa stand vom Bett auf und ging zum Stereogerät, um die
Platte zu wechseln. Sie stand von ihrer Mutter abgewandt, als
sie sagte: »Was wird aus Alex werden, Mutter?«
Carol ging zu ihr und zog sie in ihre Arme. »Ich weiß es
nicht«, sagte sie. »Aber was auch immer aus ihm wird, die
Sache ist nicht dein Problem. Er selbst und seine Eltern müssen
sich darum kümmern. Hast du verstanden, daß du keine
Verantwortung für Alex trägst?«
Lisa nickte. »Ich glaube, ja.« Sie wischte sich die Tränen aus
den Augen und zwang sich zu einem Lächeln. »Es tut mir leid,
ich habe mich gehen lassen.«
»Ich verstehe, daß du Alex helfen willst«, sagte Carol. »Es
ist ein furchtbares Gefühl, wenn man feststellt, daß die Hilfe,
die man jemandem anbietet, zurückgewiesen wird.« Sie ging
zur Tür. »Stell die Musik leiser, damit deine kleine Schwester
einschlafen kann. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Mutter.« Die Tür fiel ins Schloß. Lisa vergrub
ihren Kopf im Kissen.
An jenem Abend lag Alex noch lange wach. Er versuchte zu
verstehen, was in Jake's Place vorgefallen war. Er ahnte, daß er
einen Fehler gemacht hatte.
Lisa wollte, daß
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