Das Kind der Rache
funktionieren und andere
nicht.« .
Marsh lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloß die
Augen, um nachzudenken. Er war unschlüssig, was er seinem
Sohn sagen sollte. Schließlich rang er sich dazu durch, ihm die
Wahrheit zu eröffnen. »Ich habe keine Antwort auf deine
Frage. Weil ich mir ebenfalls wegen dieser Dinge Sorgen
mache, wollte ich mir heute deine Krankengeschichte vom
Computer ausdrucken lassen. Aber die Daten sind nicht mehr
gespeichert. Dr. Torres hat deine ganze Krankengeschichte an
sich genommen und weigert sich, mir oder irgend jemandem
sonst den Inhalt zugänglich zu machen.«
Schweigend saß Alex da. Er dachte über die Worte seines
Vaters nach. Nach einer Weile sagte er: »Ist es nicht sehr
merkwürdig, daß Dr. Torres die Krankengeschichte vor dir
geheimhält?« fragte er.
»Deine Mutter findet es ganz in Ordnung. Sie glaubt, es sei
Dr. Torres' gutes Recht, die Daten für sich zu behalten.«
Alex schüttelte den Kopf. »Da irrt sie sich.«
»Oder wir beide irren uns«, sagte Marsh. Er beobachtete
seinen Sohn aus den Augenwinkeln. Der Junge machte ein
Gesicht, als ob ihn das alles nichts anging.
»Wir irren uns nicht«, stellte Alex fest. »Es gibt keine
vernünftige Erklärung für die Erinnerungen, die ich habe.
Etwas stimmt da nicht. Ich muß herausfinden, was mit mir
geschehen ist.«
»Und ich«, sagte Marsh, »werde dir dabei helfen, mein
Sohn.« Er stand auf und legte dem Jungen die Hand auf die
Schulter. »Alex?« Sein Sohn hob den Blick. »Hast du Angst,
mein Junge?«
Alex dachte nach. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein,
ich habe keine Angst. Ich will nur herausfinden, was mit mir
los ist.«
»Was mich angeht«, sagte Marsh, »Ich habe Angst.«
»Dann kannst du von Glück sagen«, bemerkte Alex. »Ich
wünschte, ich könnte so etwas wie Angst empfinden.«
Ein Tag später. Alex war in der Schule, die erste Stunde hatte
begonnen. Daß sein gestern ausgesprochener Verdacht nur
allzu begründet war, war ihm auf dem Weg zur Schule durch
ein kleines Erlebnis bestätigt worden. Er war bei Lisa
vorbeigegangen, um sie abzuholen, aber er hatte sie nicht
angetroffen. Von Kim, der kleinen Schwester des Mädchens,
erfuhr er, daß sie das Haus fünf Minuten zuvor verlassen hatte.
»Meine Schwester sagt, du bist verrückt«, hatte Kim
hinzugefügt. »Sie hat die Nase von dir voll, sie will nichts
mehr mit dir zu tun haben. Aber sie ist dumm.« In diesem
Augenblick war die Mutter erschienen. Sie hatte Kim ins Haus
zurückbeordert.
»Es tut mir leid wegen Lisa«, sagte sie, als sie mit ihm allein
war. »Das Mädchen wird darüber hinwegkommen, ich bin ganz
sicher. Sie ist gestern nur so erschrocken, weil du gesagt hast,
der Mörder von Marty Lewis läuft noch frei herum.«
»Ich wollte ihr damit keine Angst einjagen«, sagte Alex.
»Sie hat mich nur gefragt, ob ich glaube, daß Mr. Lewis der
Mörder ist. Ich habe ihr gesagt, daß er's nicht getan hat.«
»Ich weiß, was du gesagt hast, und ich bin sicher, Lisa wird
dir deswegen nicht ewig böse sein. Aber heute früh hat sie es
vorgezogen, allein zur Schule zu gehen. Es tut mir leid.«
»Aber das macht doch nichts«, hatte Alex geantwortet.
Danach hatte er sich von Lisas Mutter verabschiedet und
seinen Schulweg fortgesetzt. Er war nicht überrascht, daß
keiner der Schulkameraden, die ihm begegneten, ein Wort mit
ihm wechselte. Als er das Klassenzimmer betrat, verstummten
die Gespräche.
Auf dem Platz neben Lisa saß ein anderer Schüler.
Alex war von alledem weder überrascht, noch fühlte er sich
verletzt.
Allerdings beschloß er, künftig besser auf die Wahl seiner
Worte zu achten. Es war nicht gut, wenn die Leute ihn für
verrückt hielten.
Geschichtsunterricht. Einige Minuten lang hörte Alex dem
Vortrag des Lehrers zu , dann blendete er das Geräusch aus, so
wie er am Abend zuvor die Erklärungen seiner Eltern
ausgeblendet hatte. Was der Lehrer dort vortrug, stand in dem
Textbuch, dessen Inhalt sich Alex schon vor drei Tagen
angeeignet hatte.
Der Text war so genau in seinem Gedächtnis gespeichert,
daß er ihn Wort für Wort, ohne die geringste Abweichung von
der Vorlage, hätte niederschreiben können.
Ohnehin interessierte sich Alex an jenem Morgen nicht für
Geschichte, sondern für die Informationen, die in dem Buch
über das menschliche Gehirn enthalten gewesen waren. In
Gedanken ging er noch einmal das Gespräch durch, das er am
Abend zuvor mit seinem Vater geführt
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