Das Kind der Rache
beschied er sie.
»Jedenfalls ist es viel zu früh, daraus Schlüsse zu ziehen.« Und
dann erzählte er ihr von dem Gespräch, das er mit Alex auf der
Heimfahrt vom Medical Center geführt hatte.
»Du siehst also, das Lächeln hat wirklich nichts zu bedeuten«, beendete er seine Erklärung fünfzehn Minuten später.
»Unser Junge hat nach wie vor keine Gefühle, und er weiß um
diesen Mangel, was die Sache nur noch schlimmer macht. Er
hat mir gesagt, daß er sich wie ein Geistwesen vorkommt.
Allerdings verfügt er immer noch über die Fähigkeit zur
Mimik. Wenn er will, kann er durch eine Veränderung seines
Gesichtsausdrucks den Anschein erwecken, als hätte er
Gefühle. Genau das hat er eben, bevor er ging, bei uns
ausprobiert. Sein Intellekt hat ihm gesagt, daß ein Junge, der
von seinem Vater den Autoschlüssel für einen Besuch bei
seinen Freunden bekommt, mit dem Anzeichen der Freude
reagiert. Nur deshalb hat er gelächelt. Die Geste kam nicht
spontan, sondern aus Berechnung, ähnlich wie bei einem
Schauspieler, der eine bestimmte Rolle zu verkörpern hat.«
Ellen befiel die Angst. »Aber warum?« flüsterte sie.
»Warum sollte er lächeln, wenn ihm nicht danach zumute ist?«
»Er weiß, daß die Leute ihn für verrückt halten, wenn er
keine Gefühle zeigt«, gab Marsh zur Antwort. »Und natürlich
hat er kein Interesse daran, für verrückt erklärt zu werden. Er
hat mir gesagt, daß er unter keinen Umständen in eine
psychiatrische Anstalt will. Jedenfalls nicht, bevor er
herausgefunden hat, was mit seinem Gehirn los ist.«
»In eine psychiatrische Anstalt?« Ellen hatte das Gefühl, als
hätte sich der Raum um sie zu drehen begonnen. »Wer denkt
denn daran, unseren Jungen in einem solchen Krankenhaus
verschwinden zu lassen?«
»Es ist doch üblich, daß Verrückte hinter Schloß und Riegel
kommen«, erinnerte Marsh seine Frau. »Sieh es einmal so:
Alex weiß, daß wir ihn lieben. Aber er weiß nicht, was Liebe
eigentlich bedeutet. Er weiß nur, was er gelesen hat. Und was
hat er gelesen? Ein Buch, in dem von Heilanstalten und
Verrückten die Rede ist.« Marsh war den Tränen nahe. »Der
Junge liest und liest, und er kann sich an jedes gelesene Wort
erinnern, als hätte er statt eines Gehirns einen Computer im
Kopf. Leider weiß er nicht, was das Gelesene bedeutet.«
Maria Torres schleppte sich auf dem Bürgersteig entlang. Als
die Last der Einkaufstasche zu schwer wurde, blieb sie stehen
und ließ die Tasche sinken.
Raymond, ihr Sohn, hatte ihr versprochen, daß er sie im
Wagen zum Einkaufen abholen würde, aber dann hatte er
angerufen und die Verabredung abgesagt. Es gab Schwierigkeiten mit einem Patienten, deshalb müsse er im Institut
bleiben. Maria wußte, der Patient, um den es ging, war
Alejandro. Und sie wußte auch, daß mit Alejandro alles bestens
in Ordnung war. Aber Raymond schien das trotz seiner
medizinischen Ausbildung nicht zu verstehen. Raymond hatte
vergessen, worauf es ankam. Eines Tages, das wußte sie,
würde ihr Sohn begreifen. Eines nicht mehr fernen Tages
würde er begreifen, daß der Haß, den sie in seine Seele gesät
hatte, Früchte tragen mußte. Vorläufig benahm er sich noch
wie ein Gringo.
Dazu paßte es, daß er die Verabredung mit der eigenen
Mutter absagte. Maria hatte allein einkaufen müssen. Es waren
fünf Straßenzüge vom Geschäft bis zu ihrer Wohnung. Ihre
Arme schmerzten, als sie die Tasche ein paar hundert Schritte
weit geschleppt hatte.
Sie hatte sich ausgeruht und wollte weitergehen, als sie . den
Wagen bemerkte, der in die Parklücke einbog. Zunächst spürte
die alte Frau wenig Interesse für den Fahrer des Autos. Das
änderte sich, als sie das Gesicht des jungen Mannes sah.
Es war Alejandro.
Ihre Blicke trafen sich. Der Junge wußte, wer die alte Frau
war, und Maria Torres wußte, daß die Heiligen, ihre Heiligen,
ihre Gebete erhört und Alejandro zu ihr geschickt hatten. Es
war ein gutes Omen. Weil Raymond sich ihr versagt hatte, war
Alejandro gekommen. Sie ging zur Bordsteinkante und beugte
sich vor. Der junge Mann hatte das Wagenfenster
heruntergekurbelt.
»Vamos«, flüsterte sie. Ihre Augen glänzten. »Vamos a
matar.«
Das Echo der Worte war wie glühendes Erz, das in Alex'
Ohren gegossen wurde. Er hatte sofort verstanden, was sie ihm
sagen wollte. Komm, laß uns morden gehen. Der Nebel seiner
Erinnerung lichtete sich. Er beugte sich zur Seite, um die
Beifahrertür zu öffnen. Maria Torres glitt auf den Sitz und ließ
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