Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
Vom Netzwerk:
unansehnliche Version, die schielte und dünnes, ausgebleichtes Haar hatte; eine mütterliche mit schwangerem Bauch und Falten auf der Stirn, ein uraltes Weib, das meiner Großmutter unangenehm ähnlich sah. Ich blieb nicht lange in dieser Gestalt, denn es entsetzte mich zu denken, dass es vielleicht eine Zukunft gab, in der ich so sein würde wie sie. Dann, etwas schwieriger, eine Fainne, die etwa acht Jahre alt war und so groß wie meine Cousine Sibeal. Dieses Kind starrte mich aus der polierten Kupferoberfläche des Spiegels an, mit unschuldigem, ungeformtem Gesicht; das Haar fiel ihr über die kleinen Schultern wie ein Umhang aus Feuer. An ihrem Finger trug sie einen kleinen Ring, der aus wildem Gras geflochten war. Und hinter ihr sah ich statt der Steinwände meines Zimmers die Klippen der Honigwabe, die Wellen des Meers und den wolkigen Himmel von Kerry. Ich glaubte, die Stimme meines Vaters zu hören, der sagte: Gut gemacht, Tochter. Du bist begabt für diese Dinge. Dann veränderte ich mich abrupt zurück, zu abrupt, denn ich wurde beinahe ohnmächtig von dem plötzlichen Energieverlust, der solche Übergänge begleitet. Und als ich wieder in den Spiegel schaute, sah ich abgehärmt aus wie ein Schatten meiner selbst. Tag um Tag, Nacht um Nacht übte ich diese Fähigkeiten. Bald, sehr bald, würde ich den letzten Schritt vollziehen, mich vom Mädchen in ein Tier und von einem Tier in ein Mädchen verwandeln.
    Eamonn schickte einen Brief. Nicht an mich; das wäre unangemessen gewesen, und Eamonn war jemand, der sich immer an die Regeln hielt, wenn er das konnte. Der Brief war an Onkel Sean gerichtet, und es war die offizielle Bitte um meine Hand. Ein solcher Brief konnte nicht ignoriert und auch nicht mit einer direkten Weigerung abgetan werden – nicht, wenn der Schreiber ein Verwandter und Verbündeter war. Es schien keinen Unterschied zu machen, dass man Eamonn bereits mitgeteilt hatte, eine solche Verbindung sei unmöglich. Tatsächlich schien dieser Mann das Wort Nein nicht zu verstehen. Er brachte seine Bitte höflich vor, wies darauf hin, dass keine Mitgift zu erwarten war, und er fügte hinzu, dass es ihm im Hinblick auf die im Sommer anstehenden Gefahren lieb wäre, die Hochzeit schon im Frühling stattfinden zu lassen, vielleicht zu Imbolc. Hinter diesen Worten stand noch eine andere Botschaft: Ich würde noch vor dem Sommer in Glencarnagh etabliert und als seine Frau akzeptiert sein. Es war sehr wahrscheinlich, dass er mich schwängern würde, bevor er sich zum Feldzug aufmachte. Falls er umkam, würde er zumindest einen Erben zurücklassen. Diese ungeschriebene Botschaft war auch für Sean klar genug. Ich selbst konnte Eamonns wahre Absicht deutlich erkennen. Er wollte mir sein Brandzeichen aufprägen, mich zu seinem Besitz machen. Nun, da er wusste, wozu ich in der Lage war, wollte er sicher sein, dass ich meine Fähigkeiten zu seinem Vorteil einsetzte und nicht zu dem eines anderen. Informationen, Geheimnisse, Spionage. Mit mir an seiner Seite würde für ihn alles möglich werden; also wollte er unbedingt dafür sorgen, dass wir noch vor dem Feldzug heiraten würden. Vielleicht war ihm auch aufgefallen, dass in unserer Verbindung Möglichkeiten lagen, die weit über die Vernichtung eines einzelnen Feindes hinausgingen.
    Sean zeigte mir den Brief unter vier Augen. Ich war ihm dankbar dafür, denn es wäre mir sehr unangenehm gewesen, wenn auch Tante Liadan anwesend gewesen wäre. Ich las den Brief rasch und reichte ihn ihm zurück.
    »Sehr förmlich«, stellte ich fest.
    Onkel Sean zog die Brauen hoch. »Du kannst also lesen«, sagte er.
    »Mein Vater hat es mir beigebracht. Und er war seinerseits ein Schüler Conors. Ich nehme an, man könnte mich sogar als Gelehrte betrachten. Wenn du mir nicht gestattest zu heiraten, könnte ich mir vielleicht irgendwo Arbeit als Schreiberin suchen.«
    Sean sah mich forschend an. »Das glaube ich nicht. Conor sah dich als Druide. Würdest du eine solche Berufung in Betracht ziehen?«
    »Leute wie ich können das nicht.« Mein Tonfall war kalt. »Das solltest du wissen, Onkel. Immerhin bin ich die Tochter meines Vaters.«
    »Und die deiner Mutter, Fainne. Sie war meine Schwester. Ich bin es ihr schuldig, die richtige Wahl für dich zu treffen.«
    »Für sie hast du die falsche getroffen«, erklärte ich bitter.
    »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es ist wahr, sie hatte kein Glück. Dennoch, damals haben wir getan, was wir für richtig hielten. Niemand hätte

Weitere Kostenlose Bücher