Das Kind des Schattens
Trauer um die Menschen des Löwen in Eridu?«
Die Tränen in Faeburs Gesicht waren getrocknet. Er war älter geworden, dachte Kim, in einem Tag, in weniger als einem Tag schien er so viel älter geworden zu sein. Lange Zeit – so empfand sie es – stand er bewegungslos, und dann bot er dem Zwerg langsam und überlegt die Hand. Brock reichte hinauf und drückte sie zwischen seinen beiden Händen. Sie bemerkte, dass Dalreidan auf sie blickte. »Gehen wir weiter?« fragte er ernst.
»Wir gehen weiter«, bestimmte sie, und während sie noch sprach, kehrte der Traum zu ihr zurück, der Regen und der Rauch und der Name, der in Danas Mund geschrieben stand.
Im Süden und weit unter ihnen glänzte der Kharnfluß in seiner Schlucht im Abendlicht. Sie waren so hoch gestiegen, dass ein Adler, der über dem Fluss schwebte, bereits unter ihnen war. Seine Schwingen schimmerten im Sonnenlicht, das von Westen aus schräg in die Schlucht hinabfiel. Sie waren umgeben von Bergen des Camevonrückens. Selbst jetzt, mitten im Sommer, waren seine Gipfel schneebedeckt. Es war kalt, so hoch dort oben, und zudem schwand die Wärme des Tages. Kim war dankbar für den Sweater, den sie ihr in Gwen Ystrat geschenkt hatten. Er war federleicht und wundervoll warm, ein echter Beweis für das hohe Niveau der Webkunst in dieser ersten Welt von allen Welten des Webers.
Und trotzdem empfand sie Kälteschauer.
»Jetzt?« fragte Dalreidan, und seine Stimme klang bewusst neutral. »Oder möchtest du lieber ein Lager schlagen und bis zum Morgen hier bleiben?«
Alle drei blickten auf sie und warteten. Sie hatte die Entscheidung zu fällen. Die drei hatten sie zu diesem Platz geführt, hatten ihr über die schwierigsten Teile der Kletterpartie hinweggeholfen, sie hatten geruht, wenn sie Ruhe brauchte, aber nun waren sie angelangt, und alle Entscheidungen gingen von ihr aus.
Sie blickte an ihren Gefährten vorbei nach Osten. Fünfzig Meter weiter sahen die Felsen genauso aus wie an dem Platz, an dem sie standen. Das Abendlicht fiel hier wie drüben ebenso sanft auf die Berge. Sie hatte irgendeinen Unterschied, irgendeine Veränderung erwartet: ein Schimmern, einen Schatten, eine schärfere Intensität, aber nichts davon sah sie, und doch wusste sie, dass die Felsen, die fünfzig Schritte weiter östlich lagen, bereits zu Kath Meigol gehörten.
Jetzt, wo sie hier war, sehnte sie sich mit ihrem ganzen Herzen danach, an irgendeinem anderen Ort zu sein, mit den Schwingen des Adlers da unten begabt zu sein, so dass sie auf dem Abendwind hinwegschweben könnte. Nicht von Fionavar, nicht vom Krieg wollte sie sich entfernen, aber von der Einsamkeit dieses Ortes und dem Traum, der sie hierher geführt hatte. Sie suchte und fand in sich die schweigsame Gegenwart, die der Ysanne in ihr. Darin fand sie Trost. Sie war niemals wirklich allein, sie hatte immer zwei Seelen in sich, jetzt und immer. Aber ihren Gefährten bot sich kein Trost in dieser Art, sie harten keine Träume oder Visionen, die sie leiteten. Sie waren ihretwegen, und nur ihretwegen, hier, und nun warteten sie darauf, dass sie sie führen würde. Während sie noch stand und zögerte, kletterten die Schatten den Abhang der Bergschlucht hinab.
Sie holte Atem und ließ ihn langsam wieder ausströmen. Sie war hier, um eine Schuld zurückzuzahlen, eine Schuld, die nicht allein die ihrige war. Sie befand sich außerdem hier, weil sie in einer Zeit des Krieges den Baelrath trug und weil niemand außer ihr in irgendeiner Welt den prophetischen Traum, den sie in tiefster Dunkelheit empfangen hatte, manifestieren konnte.
In tiefster Dunkelheit. In ihrem Traum war es Nacht gewesen, vor den Höhlen hatten Feuer gebrannt. Sie blickte hinab und sah, dass der Stein auf ihrem Finger wie eine Feuerzunge flackerte. »Jetzt«, entschied sie, zu den anderen gewandt. »Es wird schlimm sein im Dunkel, ich weiß es, aber am Morgen wird es auch nicht besser sein, und ich glaube, wir sollten nicht warten.«
Alle drei waren sehr mutig. Ohne ein weiteres Wort machten sie ihr Platz, damit sie wieder hinter Faebur und gefolgt von Brock in der Reihe gehen konnte … und Dalreidan führte sie nach Kath Meigol hinein.
Obwohl der Vellin sie schützte, fühlte sie die Wirkung magischer Kräfte, als sie die Grenze zum Land der Riesen überschritten, und die Form, die diese magischen Kräfte annahmen, war Angst. Sie sind keine Geister, sagte sie sich selbst immer und immer wieder, sie leben. Sie haben auch mein Leben
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