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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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diese beiden Bilder in seinem Bewusstsein, und der Sturm trieb sie voran.
    Die Prydwen segelte mit dem Wind, sie wurde mit einer Geschwindigkeit durch das Wasser gepeitscht, die kein Schiff jemals hätte aushalten können, die keine Segel hätten ertragen können. Aber die Planken dieses Schiffes, die in ihrer Spannung kreischten und knirschten, hielten dennoch, und die Segel, die mit der Liebe, der Sorgfalt und Jahrhunderten überlieferter Kunstfertigkeit im Taerlindel gewoben worden waren, fingen diesen heulenden Wind, füllten sich mit ihm und rissen nicht, wie sehr auch der schwarze Himmel über ihnen von Blitzen durchzuckt wurde und das Meer selbst noch von Donner erbebte. Die beiden Männer an der Ruderpinne kämpften, um den Kurs zu halten, ihre Körper waren durch die grausame Anstrengung zum Zerreißen gespannt. Und dann sah Paul ohne jegliche Überraschung, sondern nur mit einem dumpfen schmerzlichen Gefühl der Unausweichlichkeit, wie Lancelot du Lac sich zu ihnen hinüberhangelte. Und so waren sie schließlich zu dritt: Coll, der zusammen mit Lancelot und Arthur an seinen beiden Seiten sein Schiff manövrierte; ihre Füße stemmten sich gegen das schlüpfrige Deck, zusammen hielten sie die Ruderpinne umfasst und führten das Schiff, dieses kleine, tapfere, unverwüstliche Schiff in makelloser und zwingender Harmonie in die Bucht des Anor Lisen.
    Und auf die zerklüfteten Felszacken zu, die den südlichen Eingang zu dieser Bucht bewachten.
    Paul wusste später nicht, ob sie hatten überleben sollen. Es war ihm klar, dass Arthur und Lancelot überleben mussten, sonst wäre der Sturm, der sie hierher brachte, sinnlos gewesen, aber die anderen von ihnen waren in der Entwicklung dieser Geschehnisse überflüssig, wie bitter dieser Gedanke auch sein mochte. Er wusste auch nie genau, was ihn gewarnt hatte. Sie bewegten sich so schnell durch die Finsternis und die peitschenden, blendenden Regenfelder, dass keiner von ihnen das Ufer, geschweige denn die Felsen überhaupt gesehen hätte. Wenn er sich später zurückerinnerte und diesen Augenblick von neuem zu erleben suchte, dachte er, dass vielleicht die Raben gesprochen hatten, aber in diesem Augenblick herrschte das Chaos auf der Prydwen, und er war sich nicht sicher.
    Was er jedoch in jenem Bruchteil der zersplitterten Zeit, bevor die Prydwen in Trümmer und Sparren zersplitterte, wusste, war, dass er aufgesprungen war in diesem unnatürlichen Sturm mit ebenso unnatürlicher Sicherheit und dass er mit einer Stimme, die den Donner umfing und in sich behielt, die von ihm und in ihm war (genauso wie damals in und durch den Sommerbaum), geschrien hatte: »Liranan!« Mit derselben Stimme, der Stimme Mörnirs, der ihn zurückgeschickt hatte, schrie er »Liranan!«, genau in dem Augenblick, als sie aufschlugen.
    Die Masten krachten wie abgebrochene Bäume, die Planken krachten, das Deck krachte, der Boden des Schiffes krachte gnadenlos und vollständig durch, und das dunkle Meer schoss herein. Wie ein Blatt, wie ein Zweig, ein bedeutungsloses Ding wurde Paul vom Deck des plötzlich aufgelaufenen Schiffes hinwegkatapultiert. Alle Männer der Besatzung wurden von Deck geschleudert, alle, die einen Augenblick zuvor noch auf der Prydwen gestanden hatten, jenem Schiff, das Colls Großvater so sehr geliebt hatte.
    Und noch als Paul flog, als er den Bruchteil einer Sekunde lang, den Bruchteil eines Zeitfunkens lang seinen zweiten Tod inmitten der Felsen und der kochenden, tobenden, vernichtenden See kostete, hörte er eine klare, eine bekannte Stimme in seinem Geist.
    Und Liranan sprach zu ihm und sagte: »Ich werde dafür zahlen und zahlen und immer wieder zahlen müssen, bevor das Weben der Zeit vollendet ist, aber ich bin es dir schuldig, Bruder – an einem bestimmten Platz scheinen die Sterne des Meeres nun wieder, weil du mich verpflichtet hast, dir zu helfen. Dies aber entspringt nicht aus einem Gefühl der Verpflichtung, es ist ein Geschenk. Denk an mich!«
    Und dann segelte Paul hilflos in das Wasser der Bucht. In das ruhige, kaum bewegte, blaugrüne Wasser der Bucht. Weg von den zackigen, mörderischen Felsen. Heraus aus dem vernichtenden Sturm in einen milden Regen, der sanft herniederfiel ohne die Böen, die ihn vorher so scharf und schneidend gemacht hatten.
    Aber unmittelbar hinter der Krümmung der Bucht wütete noch immer der Sturm, zuckten noch immer Blitze aus den violett gefärbten Wolken nieder. Dort aber, wo er nun war, wo sie alle waren, fiel ein

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