Das Kind des Schattens
Walde. Bis jetzt war es ihm ja gelungen, Galadan zu täuschen, aber er wollte sein Glück nicht auf die Probe stellen und zu lange verweilen. »Ich habe saubergemacht«, entgegnete er mit einem ungeduldigen Drängen, das er nicht zu spielen brauchte. »Ich habe das Glas und die Böden geputzt, ich habe die Fenster zurückgerollt, damit die Luft hereinkommt, und ich habe zwei Tage lang Ausschau gehalten, um zu sehen, ob das Schiff kommt. Als dann aber der Sturm losbrach, wusste ich, dass es an Land getrieben worden war, und da es nicht hier war …«
Galadans Augen waren kalt und grau und fixierten von oben die seinen. »Waren keine Blumen im Turm«, flüsterte er, und mit einem Mal wurde seine Drohung zu einer lebhaften, knisternden Gegenwart in jenem Teil des Waldes, wo sie sich befanden. Flidais spielte nicht mehr, sein Herz raste, sein Mund war plötzlich ganz trocken, und er sagte: »Doch, mein Herr, sie … waren vertrocknet und fielen in sich zusammen, als ich den Raum abstaubte. Ich kann Euch andere Blumen bringen. Wollt Ihr, dass ich …«
Weiter kam er nicht. Schneller als das Auge folgen oder der schnellste Geist vorhersehen konnte, schmolz die Gestalt vor ihm weg und stand ein Wolf vor ihm und sprang noch in dem Augenblick, wo er erschien, auf ihn los. Mit einer schnellen, genau gezielten Bewegung streifte eine riesige Pfote den Kopf des Andain vom Walde.
Flidais hatte noch nicht einmal Zeit, sich zu bewegen. Er war umsichtig und klug und in seinem Wald erstaunlich schnell, aber Galadan war, was er war. Und so lag der kleine, bärtige Andain einen Augenblick später auf dem durchnässten Waldboden, wand sich in echter Agonie auf dem Boden und hielt beide Hände an die blutüberströmte Stelle, wo sein rechtes Ohr weggerissen war.
»Lebe noch ein Weilchen, Waldgeist«, hörte er durch das Toben des Schmerzes, der ihn durchwallte. »Und nenne mich in deinem innersten Herzen gnädig. Du hast die Blumen berührt, die ich an jenem Ort für sie hingelegt habe«, vernahm er die Stimme, und sie klang gütig, wohlüberlegt und elegant. »Konntest du wirklich erwarten, dass es dir erlaubt sein würde weiterzuleben?«
Dann aber hörte Flidais, der sich bemühte, bei Bewusstsein zu bleiben, in seinem tosenden Geist eine andere Stimme, die gleichzeitig nahe und sehr fern klang. Und diese Stimme fragte: »O mein Sohn, was ist aus dir geworden?«
Flidais wischte sich das Blut weg, und es gelang ihm, seine Augen zu öffnen. Es schien ihm, als schwanke der Waldboden heftig auf und nieder. Dann richtete er sich auf und sah durch einen Vorhang von Blut und Schmerz die hohe, nackte und gebieterische Gestalt und die großen Hörner von Cernan von den Tieren. Ihn hatte er, gerade bevor Galadan kam, an diesen Ort gerufen.
Mit einem wütenden Schnarren, in das sich noch etwas anderes mischte, wandte sich der Wolfsfürst seinem Vater zu. Einen Augenblick später hatte Galadan seine menschliche Gestalt wieder angenommen, er war elegant wie zuvor. »Du hast seit langer Zeit das Recht verloren, mich das zu fragen«, erklärte er. Er hatte laut zu seinem Vater gesprochen, genau wie er selbst laut zu Galadan gesprochen hatte, damit er keinen Zugang zu seinen Gedanken gewinnen solle.
Majestätisch und schrecklich in seiner Nacktheit kam der Gott der Wälder auf ihn zu. Cernan sprach laut, und seine Stimme hallte wider: »Warum ich den Magier nicht für dich töten wollte? Darauf werde ich dir nicht mehr antworten, mein Sohn. Aber in diesem Wald, wo ich dich zeugte, will ich dich noch einmal fragen, wie du dich selbst so sehr verlieren konntest, dies deinem eigenen Bruder anzutun?«
Flidais schloss seine Augen. Er fühlte, wie sein Bewusstsein Welle für Welle hinwegschwand, es war wie das Meer, das sich bei Ebbe zurückzog. Aber bevor er mit den Gezeiten verschwand, hörte er Galadan von neuem lachen, es war ein spöttisches Lachen, und er sagte zu seinem, zu ihrem Vater: »Warum sollte es mich auch nur im geringsten interessieren, dass dieser fette Langeweiler vom Wald ein weiteres Erzeugnis deiner verfluchten Saat ist? Söhne und ihre Väter«, schnarrte er auf halbem Wege zu dem Wolf, zu dem er so leicht werden konnte. »Warum sollte das jetzt von Bedeutung sein?«
O doch, o doch, dachte Flidais mit dem letzten Fetzen seines Bewusstseins. Es ist so wichtig, wenn du nur wüsstest, Bruder! Keinem der beiden anderen übermittelte er diesen Gedanken. Tief in seinem Innern umklammerte er die Erinnerung an den versengten Baum und
Weitere Kostenlose Bücher