Das Kind des Schattens
sprach leise und leidenschaftlich. »Fast beneide ich dich und Kim … Ihr scheint euch beide eures Platzes in diesem Krieg so sicher zu sein.«
Ihr Gesicht war ernst, sie dachte darüber nach. Dann verbesserte sie ihn. »Die Seherin brauchst du nicht zu beneiden, Pwyll, sie nicht. Und was mich anbelangt …« Sie wandte sich wieder dem Meer zu. »Was mich anbelangt, so habe ich mich in meinem eigenen Heiligtum unbehaglich gefühlt, was zuvor niemals geschehen ist. Ich glaube, niemand braucht mich zu beneiden.«
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich und wagte, es zu tun.
Es war auch gewagt, denn ihr Blick blitzte rasch zu ihm zurück.
»Was du jetzt gesagt hast, ist allerdings eine Anmaßung«, stellte sie kalt fest, »und außerdem bist du nicht darum gebeten worden.«
Er hielt ihrem Blick stand, weigerte sich, ihm auszuweichen, suchte aber trotzdem nach etwas, was er entgegnen könnte. Noch während er dies tat, veränderte sich ihr Ausdruck, und sie fügte hinzu: »Jedenfalls würde das Mitleid, das du vielleicht empfinden könntest, durch Audiarts Vergnügen ausgeglichen, ja, mehr als ausgeglichen, wenn sie davon hören würde. Sie würde vor Freude singen, und Dana weiß, sie kann nicht singen.«
Pauls Mund stand offen. »Jaelle«, flüsterte er, »hast du gerade gescherzt?«
Sie machte eine Geste der Verzweiflung. »Was glaubst du, was wir im Tempel tun?« schnappte sie. »Glaubst du, wir stelzen nur umher und intonieren Tag und Nacht Gesänge und Flüche, oder sammeln Blut, nur so zum Spaß?«
Er ließ einen Augenblick vergehen, bevor er gegen das Geräusch der Wellen antwortete: »Das klingt irgendwie richtig«, meinte er freundlich. »Jedenfalls hast du dir keine Mühe gemacht, das Gegenteil zu behaupten.«
»Dafür gibt es Gründe«, schoss Jaelle zurück. »Du bist inzwischen sicher genügend mit der Macht vertraut, um den Grund erraten zu können. Die Wahrheit aber ist, dass die Tempel seit langem mein einziges Zuhause waren. Es gab dort Lachen, Musik und ruhige Vergnügungen, bis dann die Trockenheit und der Krieg kamen.«
Jaelles Problem oder eines ihrer Probleme, machte er sich scharfsinnig klar, lag darin, dass sie zu oft im Recht war. Er nickte. »Nun gut, aber wenn ich unrecht hatte, musst du jedenfalls zugeben, dass der Grund dafür darin zu suchen war, dass du es wolltest. Du kannst dieses Missverständnis jetzt mir zur Last legen. Eine Klinge sollte nicht zweischneidig sein.«
»Sie sind alle zweischneidig«, bemerkte sie ruhig. Er hatte gewusst, dass diese Entgegnung kommen würde. Auf vielerlei Weise war sie noch immer sehr jung, obwohl es selten durchschien.
»Wie alt warst du, als du in den Tempel kamst?« fragte er.
»Fünfzehn«, antwortete sie nach einer Pause. »Und siebzehn, als ich unter die Mormae aufgenommen wurde.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist sehr …«
»Leila war vierzehn, und jetzt ist sie erst fünfzehn«, unterbrach sie ihn und kam ihm damit zuvor. »Und auf Grund dessen, was ich heute früh getan habe, gehört sie nun selbst zu den Mormae und ist sogar noch mehr als das.«
»Was meinst du?«
Sie fixierte ihn mit einem vorsichtigen Blick. »Versprichst du mir, darüber zu schweigen?«
»Mit Sicherheit.«
Jaelle erklärte: »Weil ich sie dazu bestimmt habe, mich in meiner Abwesenheit zu vertreten, und daraus folgt nach Danas Webmustern, dass, wenn ich in dieser Kriegszeit nicht nach Paras Derval zurückkehre, Leila Hohepriesterin wird. Mit fünfzehn.«
Gegen seinen Willen empfand er ein erneutes Frösteln, obwohl die Nacht mild und der Himmel erleuchtet war. »Du hast das doch gewusst, als du sie ernannt hast?« gelang es ihm, zu fragen.
»Natürlich«, gab sie mit mehr als nur einer Spur ihrer mühelosen Verachtung zu. »Was glaubst du, wer ich bin?«
»Eigentlich weiß ich es nicht«, gestand er ehrlich. »Warum hast du es dann getan?«
Die Frage war direkt genug, um sie zum Nachdenken zu veranlassen. Schließlich antwortete sie: »Gerade vorher habe ich es dir zu verstehen gegeben: Instinkt, Intuition. Viel mehr als das habe ich meistens nicht zur Verfügung, und darüber könntest auch du dir Gedanken machen. Kurz zuvor hast du über mangelnde Kontrolle geklagt. Eine Macht wie die unsrige ist nicht so leicht zu manipulieren, und so sollte es eigentlich auch nicht sein. Ich gebe Dana keine Befehle, ich spreche für sie. Und so, scheint mir, sprichst auch du für den Gott, wenn er sprechen will. Du könntest darüber nachdenken, Zweimal
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