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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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meine Worte von zuvor dir Schmerz bereitet haben. Dieses eine Mal hatte ich es nicht gewollt.«
    »Ja, dieses eine Mal«, wiederholte er trocken, aber sie begann nun endlich, die wechselnden Nuancen in seiner Stimme wahrzunehmen, und das hier war milde Ironie und weiter nichts. »Ich weiß, dass du es nicht wolltest«, versicherte er und machte sich daran, ein Wellental zu umgehen. »Diesen Schmerz habe ich mir selbst zugefügt. Ich werde versuchen, es irgendwann zu erklären, wenn du möchtest.«
    Sie antwortete nichts, konzentrierte sich nur darauf, auf dem Wasser zu gehen. Die Empfindung war unheimlich. Jaelle fühlte sich vollkommen und makellos im Gleichgewicht. Sie musste aufpassen, wohin sie ihre Füße setzte und wie sich das Meer vor ihnen bewegte, aber dann war es kein Problem mehr, über die Wasserfläche zu gleiten. Nur der Saum ihres Kleides war ein wenig nass. Wenn sie nicht auf ein Schiff zugegangen wären, das vor tausend Jahren zerstört worden war, hätte sie es sogar angenehm empfunden.
    Aber je mehr sie sich diesem Schiff näherten, um so unheimlicher und durchsichtiger ragte dieses hohle Fahrzeug vor ihnen auf. Als sie die Flanke erreichten, konnte Jaelle deutlich die klaffenden Löcher sehen, die in die Seitenflächen gerissen waren, und im nunmehr offenen Bauch von Amairgens Schiff glitzerte das Meer im Mondlicht.
    Ja, es war Amairgens Schiff, was hätte es sonst auch sein können … in der Bucht des Anor Lisen. Sie hatte keinerlei Vorstellung darüber, welche Kraft es in dieser sichtbaren Welt hielt, wie es überhaupt in dieser Gestalt segeln konnte. Sie wusste jedoch jenseits allen Zweifelns, wer der Seemann hoch über ihnen sein musste. Einen Augenblick lang, als sie auf den Wellen unmittelbar unter dieser großgewachsenen geisterhaften Gestalt stehen blieben, dachte Jaelle über die Macht der Liebe nach und sandte ein kurzes Gebet um Lisens Frieden an der Seite des Webers aus.
    Dann sprach Amairgen oder was von ihm nach einem so lange vergangenen Tod noch geblieben war, und das Mondlicht schien durch ihn hindurch. Seine Stimme klang wie der tiefe Ton eines Schilfrohres, in dem der Wind spielte. Er fragte: »Warum seid ihr gekommen?«
    Jaelle war erschüttert, ihr Gleichgewicht kam ins Wanken. Sie hatte einen Willkommensgruß erwartet, obwohl sie nicht wusste, warum, aber nicht diese kalte, direkte Frage. Mit einem Male erschien das Meer erschreckend dunkel und tief und das Land sehr fern. Sie fühlte, wie eine unpersönliche Hand sie an ihrem Ellbogen stützte. Pwyll wartete, bis sie nickte und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Mann zu, der von Deck aus zu ihnen gesprochen hatte.
    Sie sah, wie er zu dem Magier hochblickte, der von dem Seelenverkäufer getötet worden war. Pwyll, der in seinen besten Zeiten allenfalls blass war, war nun selbst weiß und geisterhaft im flutenden Mondlicht. In seinen Augen aber flackerte kein Zweifel, in seiner Stimme klang kein Zögern, als er antwortete. »Wir sind des Speeres wegen gekommen, unruhiger Geist … Und um dir die Nachrichten zu bringen, nach denen du so viele Jahre gesucht hast.«
    »Es war jemand im Turm«, schrie der Geist. Jaelle schien es, als ob der Wind sich hob, soviel Schmerz lag in den Worten, so alt war die Last dieses Verlustes. »Es war jemand im Turm, und deshalb bin ich zurückgekommen, zurück zu dem Platz, zu dem ich als Lebender nie kam, zu dem Platz, wo sie starb. Wer war in diesem Raum und hat mich zurückgehalten?«
    »Guinevere«, antwortete Pwyll und wartete. Amairgen schwieg. Jaelle nahm das Schwanken des Meeres unter ihren Füßen wahr. Einen Augenblick lang blickte sie nach unten und dann wieder schnell nach oben. Es verursachte ihr Schwindel, dass sie unter ihren Füßen Sterne gesehen hatte.
    Amairgen lehnte sich über die Reling. Sie war die Hohepriesterin der Dana, und über ihr stand der Geist des Mannes, der Danas Kraft in Fionavar gebrochen hatte. Sie sollte ihn eigentlich verfluchen, sagte ein Teil in ihr, ihn verfluchen, wie es die Priesterinnen der Göttin zu jeder Monatswende taten. Sie sollte ihr Blut in das Meer unter ihr fließen lassen, sie sollte die bitterste Beschwörung der Mutter aussprechen. Es war mehr als irgend etwas anderes zuvor ihre Pflicht, aber sie konnte es nicht tun. In dieser Nacht empfand sie nicht diesen Hass für seine längst vergangene Tat, und irgendwie wusste sie, dass sie ihn auch nie wieder empfinden würde. Zuviel Schmerz, zuviel Gram trug er in sich. Die Geschichten

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