Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
versteckten Fächern. Vergeblich. Er stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Konsole ab, die die beiden Vordersitze separierte, und beschloss wieder auszusteigen, als es ihm auffi el.
Die Konsole!
Natürlich. Für eine einfache Armlehne war sie viel zu breit. Er zog erst an der falschen Kante, doch dann öffnete sie sich mit einem leisen Knarren. Das unter dem Lederdeckel liegende Fach war so leer wie alles andere auch. Mit einer einzigen Ausnahme. Stern nahm die hüllenlose silberne Scheibe mit zwei Fingern heraus. Das spärliche Licht von der »Brücke« reichte aus. Er konnte das Datum lesen, das jemand mit grünem Filzstift auf die DVD geschrieben hatte.
Es war der letzte Tag im Leben seines Sohnes.
3.
I n einem Krankenhaus von der Größenordnung der See hausklinik fi elen Besucher nur auf, wenn sie sich bemerkbar machten. Sie mussten den Pförtner nach dem Weg fragen, mit einer Zigarette den Eingangsbereich vollqualmen oder mit einem überdimensionierten Blumenstrauß in der Drehtür stecken bleiben. Eine Frau in einem grauen Jogginganzug ohne schweres Gepäck im Schlepptau war hingegen praktisch unsichtbar, selbst wenn sie zu so früher Stunde zu den Fahrstühlen eilte.
Carina wusste, dass die Vorbereitungen für das Frühstück bereits in vollem Gange waren und der Schichtwechsel unmittelbar bevorstand. Die Aufmerksamkeitsschwelle der übermüdeten Ärzte und Schwestern hatte folglich ihren Tiefstand erreicht, als sie die Glastüren öffnete und in den Flur der Neurologischen Station eintrat. Dennoch verbarg sie ihr Gesicht unter der Kapuze des Sweatshirts, das ihr gestern Abend Roberts Vater mitgegeben hatte, damit sie niemand erkannte, bevor sie am Ziel war. Sie trat aus dem Fahrstuhl und warf einen Blick auf die große Bahnhofsuhr am Ende des Ganges. Noch zwei Minuten. Einhundertzwanzig Sekunden, in denen sie zuerst das Personal wachrütteln wollte. Das war der wichtigste Teil des Plans.
»Kurz vor sechs Uhr gehst du auf deine Station und schlägst Alarm. Ich möchte, dass so viele deiner Kollegen wie möglich davon Wind bekommen, wenn du zu der Wache vor Simons Zimmer gehst«, hatte Robert ihr eingebleut. Es sollte später keinen Zweifel daran geben, dass sie sich freiwillig gestellt hatte, damit man ihr nichts anhängen
konnte. Und noch etwas anderes hatte sie ihm versprechen müssen.
»Sobald du dich gestellt hast, sagst du ihnen, wo ich bin. Aber erst Punkt sechs Uhr. Keine Sekunde früher«, erinnerte sie sich an ihre letzte Unterhaltung, während sie den Gang hinuntereilte.
»Warum nicht?«, hatte sie ihn gefragt. »Es dauert doch mindestens fünf Minuten, bis Hilfe kommt.«
»Ja. Das ist die Zeit, die mir bleibt, um herauszufi nden, was mit meinem Sohn passiert ist. Sollte auf der ›Brücke‹ wirklich ein Baby verkauft werden, ist jedes größere Zeitfenster ein zu großes Risiko für das Kind.«
»Aber wenn sie zu spät kommen, bist du tot.« Er hatte nur müde seinen Kopf geschüttelt. »Ich glaube nicht, dass die ›Stimme‹ mich umbringen will. Dazu hätte sie in den letzten Tagen genug Gelegenheiten gehabt.«
»Aber was will sie dann?«
Statt einer Antwort hatte er sie ein letztes Mal geküsst und war dann gefahren, um es in dieser Sekunde herauszufi nden. Carina blieb stehen.
Die Milchglastür zum Schwesternzimmer stand normalerweise offen, doch jetzt hatte sich ein Teil der weiblichen Belegschaft offenbar für eine erste ungestörte Kaffeepause zurückgezogen. Carina hörte ein helles, unbekanntes Lachen hinter der Tür. Sie vermutete, dass es einer Aushilfe von einer anderen Station gehörte, die kurzfristig ihre eigene Schicht übernommen hatte.
Klack. Der Zeiger der Bahnhofsuhr fraß eine weitere Minute
ihres Zeitplans. Sie hob die Hand, wollte anklopfen – und hielt inne.
Aber das ist doch unmöglich …, schoss es ihr durch den
Kopf. Als sie den Flur betrat, hatte sie keinen Blick in Richtung von Zimmer 217 riskiert. Der Polizist vor der Tür sollte sie erst bemerken, wenn sie es wollte. Nicht umgekehrt. Und trotzdem hatte sie aus den Augenwinkeln heraus etwas gesehen, was da eigentlich nicht sein durfte. Und das war: nichts!
Sie drehte sich langsam um, sah den langen, antiseptisch gewischten Flur entlang.
In der Tat: Da war niemand. Kein Mann. Keine Frau. Kein Polizist.
Natürlich ist es möglich, dass der Beamte gerade eine Ziga-
rettenpause einlegt.
Carina ging langsam den Gang zurück.
Gut. Vielleicht ist er nur auf Toilette. Oder sieht gerade nach
dem Jungen. Aber

Weitere Kostenlose Bücher