Das kleine Reiseandenken
dich eigenmächtig vom Zug entführt hat?“
„Was hätte ich an dem Abend denn machen sollen?“
„Du hättest in ein Hospiz für junge Mädchen gehen können. Oder zur Polizei.“
„In einer Stadt, wo ich die Sprache nicht kann? Ich bin heilfroh, daß ich zu Inge Skovsgaard gekommen bin, und ich bin überhaupt nicht ihre Hausangestellte gewesen. Was ich dort zu tun hatte, habe ich mit Freude getan, und sie hat mir dafür gedankt und es mir viele Male vergolten. Und gestern habe ich ein Paar wunderhübsche Schuhe von ihr geschenkt bekommen…“
„Aha! Mein Pflegekind soll also mit ihren abgelegten Schuhen rumlaufen?“
Jetzt war Ingrid wütend, ehrlich wütend. Und sie wog ihre Worte nicht ab, sie redete frei heraus aus einem empörten Herzen.
„Ja, wenn ich schon mit abgelegten Sachen gehen muß, dann gibt es niemand, von dem ich sie lieber erben möchte. Und es ist immer noch besser, in Inges abgelegten Schuhen zu laufen als in meinen eigenen kaputten. Inge ist der feinste und beste Mensch, den ich kenne. Sie fragt mich nicht aus, was andere Leute reden, und sie liest nicht die Briefe von anderen, und sie…“
Weiter kam Ingrid nicht. Auf ihrer linken Backe knallte eine schallende Ohrfeige.
„Jetzt langt’s mir aber! Hier füttere ich dich durch und geb dir ein Dach übern Kopf und zahlte dir die teure Reise, und du lohnst es mir mit Unverschämtheiten.“
Ingrid war außer sich vor Wut. Die Tränen strömten ihr über die Backen. Nicht wegen des Schmerzes – obwohl die Backe brannte und glühte – sondern aus Scham, aus dem Gefühl der Ohnmacht und einer schreienden Ungerechtigkeit heraus…
Und sie redete, sie schluchzte die Worte in sinnloser Verzweiflung hervor, ohne Hemmungen, ohne Furcht vor den Folgen: „Ich habe nicht drum gebeten, herkommen zu dürfen. Du hättest dir die teure Reise sparen können. Ich hätte ja bleiben können, wo ich war; dort sind sie gut zu mir gewesen.“
„Ja, natürlich, du hättest bei dem Kleinbauern bleiben können, nicht wahr? Ich denke, die haben genügend Mäuler satt zu machen und werden froh sein, daß sich wer anders um dich kümmert.“
Ingrid war weiß im Gesicht, so zornig war sie. Aber sie war auch klein, jung und verzweifelt hilflos gegen alle diese Niedertracht. Und wenn die Tante sie auch völlig zuschanden schlagen würde, sie mußte sich dagegen auflehnen, daß über Tante Margrete und Onkel Peter häßlich geredet wurde.
„Die waren alles andere als froh. Sie sind immer wie Eltern zu mir gewesen. Ich habe Sehnsucht nach ihnen – ich habe täglich Sehnsucht nach ihnen. Und ich habe den Brief absichtlich mit gotischen Buchstaben geschrieben, damit du nicht lesen solltest, was ich über diese garstige, stickige Wohnung erzählt habe und daß ich nicht mal genug Wasser kriege um mich zu waschen, und daß…“
Tante Agate erhob sich. Erst in diesem Augenblick erkannte Ingrid, wie groß und breit und furchteinflößend sie doch war.
Und plötzlich befiel Ingrid eine zitternde Angst. Es wurde ihr mit einemmal klar, wie klein sie war, wie allein, wie fürchterlich allein und hilflos vor dieser Frau, die nicht begriff – die nichts von Kindern ahnte, vor diesem alten Menschen, der nichts anderes imKopf hatte als Geschäft und Geld und Sparen.
Ingrid hätte am liebsten die Flucht ergriffen, aber sie war wie gelähmt, stand zitternd und voll Furcht vor Tante Agate, voll Furcht und gleichzeitig gedemütigt, mit ihrer rotglühenden Wange.
Ach, wenn Tante Agate bloß gehen wollte. Wenn sie bloß nichts sagte. – Ach, gab es denn keine Menschenseele, die ihr helfen konnte, niemand, der…
Doch. Einer war da, der eingreifen konnte. Denn in diesem Augenblick ging die Ladenklingel. In diesem Augenblick kam ein Kunde ins Geschäft.
Und die Kunden gingen allem anderen vor.
Tante Agate ging hinüber in den Laden. Gleich darauf schellte die Glocke von neuem. Und noch einmal – und noch einmal.
Ingrid wusch sich das verquollene Gesicht. Dann strich sie sich das Haar glatt, zog die neuen Schuhe an, zerrte die Schürze herunter und verließ das Haus.
Im Park fand sie unter einer großen Trauerweide eine stille Bank. Hier ließ sie sich nieder. Sie war seltsam ruhig, ganz kalt in ihrem Innern. Irgendwie leer. Alles, was sie gepeinigt und in ihr genagt hatte, das hatte sie ausgespuckt; es tat wohl, jetzt alles los zu sein.
Ihr erster Gedanke war, zu Inge zu fahren. Aber als sie ein Weilchen hier unter der Weide gesessen hatte, verwarf sie den Plan
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