Das kleine Reiseandenken
Pferd gesessen, seit ich ganz klein war.“
„Herrgott!“ stöhnte Inge, als Lise davon erzählte. „Schafft mir ein Pferd herbei. Ich muß Genoveva auf dem Pferderücken zeichnen, Genoveva, in ihr langes Haar gehüllt…“
„Noch mehr Haar?“ lachte Ingrid. „Und wer ist Genoveva?“
„Sie ist nicht, sie war“, sagte Inge, und Herr Hall holte ein Buch und las die Geschichte von der heiligen Genoveva vor.
Es blieb noch Zeit übrig für ein paar Skizzen mit Ingrid auf dem Pferderücken – aber eine Genoveva wurde es nicht, denn Genoveva war kein schmächtiges fünfzehnjähriges Mädchen – es entstanden ein paar frische gute Zeichnungen von einem schlanken und aufrechten Mädchen auf einem schlanken, stolzen Pferd. Für Ingrid sprang ein täglicher Ritt dabei heraus, sie wurde von der ganzen Familie wegen ihres guten Reitstils bewundert.
Dann aber waren die herrlichen zwei Wochen vorüber. Unwiederbringlich zu Ende. Ingrids Herz lag schwer wie Blei in der Brust, als sie ihre Sachen packte. Das bißchen Unterwäsche, die beiden Paar Schuhe, das geblümte Sommerkleid – und die Zeichnung von dem Esel. Die hatte sie mitgenommen. Sie war ihr kostbarster Besitz, und es wäre ihr nie eingefallen, sie bei Tante Agate zurückzulassen.
An einem heißen Sommernachmittag nahm sie von dem Ehepaar Hall, von Lise und der kleinen Merete Abschied. Mit tränennassen Augen ging sie mit Inge zum Zug.
„Ich bleibe ein paar Tage in der Stadt“, sagte Inge. „Wir gehen am Mittwoch zusammen aus, damit kannst du dich trösten. Später fahre ich vielleicht noch einmal für eine Woche zu Halls hinaus. Aber du weißt immer, wo ich zu finden bin.“
Wieder stand Ingrid vor Tante Agates Haustür.
„Kopf hoch, kleines Reiseandenken. Auf Wiedersehen am Mittwoch!“
Ingrid preßte Inges Hand. Sie konnte nicht ein Wort über die Lippen bringen.
Dann blieb sie im Hausflur, gleich hinter der Tür, stehen und lauschte Inges Schritten, die allmählich auf dem Bürgersteig verhallten.
Ein Ausreißer wird geschnappt
Später fragte Ingrid sich oft, was sie wohl dazu getrieben hatte, so zu handeln, wie sie es getan. Ein ums andere Mal rief sie sich den Augenblick vor Tante Agates Wohnungstür ins Gedächtnis zurück, jene Minuten in dem dunklen Flur. Was hatte nur den Ausschlag gegeben? – Was zwang sie dazu, etwas so Wahnsinniges zu tun?
Vielleicht war es die Luft gewesen. Die schwere, abgestandene Luft, an der sie schier ersticken wollte. Der verhaßte Tabakgestank, der Geruch von Eingeengtheit, von altem Staub, von nicht gelüfteter Küche, in der schlechtes und billiges Essen gekocht wurde.
Oder – vielleicht war es auch etwas anderes. Ja! Sie wußte, was es gewesen war. Das Geräusch der verhallenden Schritte auf dem Bürgersteig. Inge, die sie gerade verlassen hatte.
Die Einsamkeit schlug ihr entgegen, grau und beklemmend, als sie vor der finsteren Wohnungstür stand. Doppelt grau und bedrückend nach diesen wunderbaren beiden Wochen. Und dann hörte sie drinnen Tante Agates schlurfende Schritte.
Da erschrak sie. Nein – sie konnte nicht! Alles andere – nur das nicht.
Sie nahm ihren Koffer auf, machte kehrt und stand wieder auf der sonnenheißen Straße.
Sie lief, lief, so schnell sie ihre Beine tragen konnten. Nach einer Weile entdeckte sie, daß sie die Richtung zur Stadtmitte eingeschlagen hatte. Sie kannte sich jetzt überall ganz gut aus und ihre Beine liefen wie von selbst dorthin, wohin das Unterbewußtsein sie lenkte.
Zu Inge? Nein. Inge war der liebevollste und beste Mensch der Welt, aber Ingrid konnte nicht einfach bei ihr erscheinen und sagen: „Ich will bei dir sein und nicht bei Tante Agate.“ Sie wußte auch, daß sie auf der Ausländerpolizei unter Tante Agates Adresse eingetragen war. Es war nicht so leicht, Ausländerin zu sein, man durfte keinesfalls etwas tun, was nicht erlaubt war…
Zurück zu Halls? Nein, auch nicht. Die hatten genug für sie getan.
Es gab in dem ganzen, milden, gastlichen Dänemark gerade jetzt nicht einen Menschen, der der kleinen Ingrid helfen konnte.
Und noch nie hatte sie so stark wie jetzt gefühlt, wo ihre Heimat war.
Ihre Heimat, die war da unten im Dorf, nur eine Tagesreise von dieser großen, fremden Stadt entfernt. Ihre Heimat war bei Tante Margrete und Onkel Peter, in dem friedlichen Häuschen, bei Elke, Monika und den Zwillingen. Sie wollte nach Hause! Sie wollte dorthin, wo sie lauter Freunde hatte, wo alle sich mit einem netten Wort und einem
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