Das kleine Reiseandenken
nachzählt. Sie ist taub und blind gegen alles übrige, und trotzdem – trotzdem…“
Sie hielt inne, und eine Röte huschte über ihr Gesicht. Es war so schwer, sich richtig auszudrücken.
„Was wolltest du sagen?“ fragte Inge. Ihr Gesicht war Ingrid zugewandt, aufmerksam zuhörend.
„Wenn ich ausspreche, was ich denke, dann fürchte ich, du wirst wütend.“
Inge blinzelte, wie immer, wenn sie sich scharf auf etwas konzentrierte.
„Nein, ich werde nicht wütend. Ich weiß vermutlich, was du sagen wolltest. Du wolltest sagen: Wenn Frau Jespersen so über ihrem geliebten Geld sitzt, dann erinnert sie dich an mich, wenn ich wie eine Wahnsinnige zeichne, nicht wahr?“
„Wie kannst du wissen, daß ich das gedacht habe?“
„Weil ich dich kenne, und weil ich weiß, wie scharf du beobachtest. Vielleicht kannst du nicht selber erklären, wie du auf diesen Gedanken kommst – aber ich kann das.“
„Ist das wahr? Du siehst so hübsch aus, wenn du dich mit irgend etwas sehr beschäftigst, und Tante ist so garstig, und trotzdem…“
„Siehst du – die Ähnlichkeit beruht darauf, daß wir beide voll und ganz von dem gefesselt sind, was wir in der Welt am liebsten haben. Ich liebe am meisten schöne Farben und gute Kunst. Darum sehe ich hübsch aus, wie du es nennst. Frau Jespersen aber liebt das Geld – das unfruchtbare, harte Geld. Du kannst nicht erwarten, daß diese Liebe sie verschönen sollte. Es ist viel wert, wenn man sich einer Sache völlig hingeben kann. Du hast es eben erst selbst getan, als du mit dem kleinen Affchen spieltest. Du tust es, wenn du mit Dixi plauderst. Die Beschäftigung mit Tieren, mit allem Lebendigen überhaupt, bringt den hübschen Ausdruck bei dir hervor. Du mußt also verstehen, daß wir froh sein müssen, wir beide – nicht stolz und prahlend, sondern demütig dankbar, daß der liebe Gott so gut gegen uns gewesen ist. Dir hat er die Liebe zu allem Lebenden geschenkt, und mir die Liebe zu den Farben, zum Licht, zur Kunst. Tante Agate ist wie ein Stiefkind auf Erden, weil sie nur die Liebe zum Geld mitbekommen hat. Begreifst du jetzt, warum sie mir leid tut?“
Ingrid lauschte – lauschte mit großen, dunklen Augen und halbgeöffnetem Mund. Nie hatte sie über das nachgedacht, was Inge sagte – nie, bis zu diesem Augenblick. Aber Inge hatte recht: Und wie hatte sie recht. Man denke bloß, wie gräßlich es sein mußte, nie einen Spaß zu haben, sich nie an etwas zu freuen, weil man immer nur daran dachte, wieviel es gekostet hatte!
Arme, alte verdrießliche, geizige Tante Agate!
Als Ingrid an diesem Abend nach Hause kam, ganz erfüllt von dem schönen Nachmittag, war ihre Bitterkeit gegen Tante Agate wie weggeweht.
Ein großes, staunendes Mitleid erfüllte sie mit diesem Menschen, der sich selber von allem ausschloß, was gut und hell und schön auf der Welt ist!
Sonnentage am Meer
„Ich gebe nicht nach!“ sagte Inge. Ihre Stimme klang fest und entschlossen.
„Aber wie willst du es schaffen?“ fragte Frau Hall zweifelnd.
„Ich weiß noch nicht. Aber eines steht fest, das Kind soll nicht den ganzen Sommer über in dem tabakstinkenden Loch von Wohnung zubringen, über Aufwaschschüsseln und Scheuereimer gebeugt.“
„Du, Inge“, sagte Lise langsam, „Ingrid ist ja ein prima Mädchen. Aber sie ist doch sehr still. Und – ich meine – was hat sie an sich, daß du sie so sehr gern hast? Sie hat doch gar keine besondere Begabung – sie ist nicht die Spur aufregend…“
„Mein junges Fräulein“, sagte Inge, „wenn du glaubst, daß es die großen Begabungen oder die aufregenden Menschen sind, die einem am liebsten sind, dann irrst du dich. Die kleine Ingrid besitzt zwei Eigenschaften, die ich außerordentlich hoch schätze: Sie ist gut, freundlich und sanft und immer guter Laune. Man weiß stets, wie man mit ihr dran ist. Sie ist nicht launisch, sie ist schlicht, ruhig und zufrieden. Und dann ist sie fleißig. Sie macht alle Arbeit, die sie schaffen kann, und sie macht sie gut. Du hättest sehen sollen, wie einfach und selbstverständlich sie bei mir Zugriff. Still und zufrieden ging sie herum, tat das Nötige, und sie kann eine ganze Menge mit ihren fünfzehn Jahren. Der stetige Fleiß und ihre Anspruchslosigkeit können ihr eine ruhige Sicherheit hier im Leben geben, die von den großen Begabungen vielleicht nie erreicht wird! Kannst du mich verstehen?“
„O ja“, meinte Lise, „es klingt ganz einfach und einleuchtend.“
„Es handelt
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