Das kleine Reiseandenken
allem Mitleid mit ihr empfindest“, sagte Tante Margrete. „Man möchte direkt etwas für sie tun, möchte ihr aus ihrem traurigen Dasein raushelfen, wenn man könnte! Aber, wie dem auch sei, ich habe jetzt zu tun, Kinder, und ihr auch! Monika, schnell zum Schulbus, du hast nur noch zehn Minuten Zeit! Elke, du mußt heute die Hühner füttern!“
„Das mache ich, Tante Margrete“, sagte Ingrid. „Elke muß zu den Kaninchen, wer weiß, ob die Graue heute nacht geworfen hat, es ist ja die Zeit! – Und du, Inge, was machst du?“
„Aufräumen“, seufzte Inge. „Es ist unglaublich, wieviel Kram sich bei mir angesammelt hat. Und Unterwäsche waschen und Blusen plätten, vergiß nicht, daß ich anständig aussehen muß, wo ich doch in einer Woche heirate!“
So gingen alle ihren Pflichten nach. Geburtstag hin, Geburtstagher, in einem Sieben-Personen-Haushalt auf dem Lande darf der tägliche Arbeitsrhythmus nicht durcheinanderkommen. Eigentlich wurden alle Geburtstage hier im Haus nur durch ein festliches Frühstück gefeiert. Der Rest des Tages war Alltag und Arbeitstag.
Im Haus herrschte Mittagsruhe. Inge hatte mit ihnen gegessen wie jeden Tag. Drüben beim Nachbarn hatte sie nur Zimmer mit Frühstück, Mittags aß sie hier bei Ingrid und der Familie, und Abendbrot machte sie selbst.
Die Kinder waren draußen beim Spielen, Elke war zu ihrer Freundin gegangen und Ingrid saß allein im Zimmer. Allein, und von guten, glücklichen Gedanken erfüllt. Da lagen ihre Geburtstagsgeschenke. Der schöne Mantel war schon im Schrank, aber der Pulli und das Halstuch lagen noch da. Das Halstuch – sie hatte es gleich wiedererkannt. Tante Agate hatte es aus ihrem eigenen Schrank genommen. Ingrid hatte es oft genug gesehen, wenn sie nach dem Plätten die Taschentücher eingeräumt hatte.
Der Schrank in dem dunklen kleinen Schlafzimmer mit dem Fenster zum Hinterhof. Die ganze muffige Wohnung, die kalte Küche mit der abgeschabten Farbe, der Spülstein mit der abgeblätterten Emaille. Die schwere Luft, der Geruch aus dem Tabakladen…
Ingrid warf einen Blick durchs Fenster. Bald würde die Sonne untergehen. Ihre letzten Strahlen warfen einen roten Schimmer auf die weiten Felder, auf das letzte goldbraune Laub.
Es war alles so frei, so offen, so frisch, so – ja, so sauber!
Wer kochte wohl jetzt für Tante Agate? Hatte sie überhaupt jemand, der für sie sorgte? Was aß sie, außer ihren Margarinebroten? – Machte sie sich vielleicht selbst einen Grießbrei oder einen Haferschleim zu Mittag? Vielleicht ein Spiegelei?
Nein, Ingrid haßte sie nicht. Je mehr sie an sie dachte, desto größer wurde ihr Mitgefühl. Mußte man nicht Mitleid mit einem Menschen haben, der lebenslänglich im Gefängnis saß? In einem dunklen Gefängnis, von der großen schönen Welt ganz abgesondert? Wenn auch das Gefängnisdasein freiwillig war?
Ingrid holte ihre Schreibsachen aus der Schublade. Jetzt, gerade jetzt, in diesem Augenblick konnte sie Tante Agate schreiben. Eben jetzt, wo sie selbst so ruhig und so glücklich war!
Liebe Tante Agate!
Vielen Dank für das hübsche Halstuch und für Deine guten Wünsche. Es tut mir leid, daß Deine Gesundheit Dir zu schaffen macht. Könntest Du Dir gar nicht denken, für zwei Wochen das Geschäft zu schließen und zur Erholung aufs Land fahren? Ich habe doch öfters in Kopenhagen das Schild mit „Ferielukning“ im Fenster der geschlossenen Läden gesehen. Und Ferielukning bedeutet doch „Geschlossen wegen Ferien“?
Mir geht es sehr gut. Ich bin, wie Du weißt, wieder zu Hause und bleibe noch über Weihnachten hier. Inge Skovsgaard hat bei unserem Nachbarn ein Zimmer gemietet und hat zwei Monate hier fleißig gearbeitet. Sie wird in einer Woche heiraten. Und während sie auf eine kurze Hochzeitsreise geht, werde ich ihren Pudel Dixi hüten. Es wird bestimmt gutgehen, denn Dixi hängt sehr an mir, und ich an ihm. Er ist ein so liebes und kluges Tier. Anfang Januar holen mich Inge und ihr Mann in ihrem Wagen ab, und dann trete ich meine Stellung als Haustochter bei den beiden an. Ich denke auch viel an meine Zukunft. Ich habe vor, soviel wie möglich von meinem Monatsgehalt bei Inge auf die hohe Kante zu legen, damit ich nachher etwas für meine Ausbildung tun kann. Ich weiß noch nicht, was es sein wird. Vielleicht Krankenpflege, aber dazu bin ich noch zu jung. Außerdem möchte ich so gern meine Schulkenntnisse ergänzen. Ich habe ja nur die Volksschule, und ich möchte doch z.B.
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