Das Knochenhaus
Bedeutung – jetzt, da ihr Leben vorüber war. Völlig fassungslos und verwirrt – ihr Geist war durch den Schock wie betäubt – blieb sie an den großen eisernen Eingangstoren stehen und schaute über ihre Schulter zurück, um einen letzten flüchtigen Blick von dem zu erhaschen, was hätte sein können.
Ein wenig später kam sie wieder zu sich. Sie waren in der Stadt, und die Leute in der Straße schritten an ihnen vorbei.
»Ich hab Hunger«, jammerte Archie und zerrte am Ärmel seiner Mutter. »Mummy, ich hab Hunger.«
»Wir besorgen uns jetzt etwas zu essen«, versprach sie und zog ihren dünnen Mantel enger zusammen. Sie schaute auf Vernons Geldbörse in ihrer Hand und öffnete den Beutel. Innen drin lagen drei Zehn-Pfund-Noten. »Dreißig Silberstücke«, sagte sie abwesend, während sie auf das Geld starrte.
»Mum?«
Sie löste sich aus der Erstarrung und ergriff die Hand des kleinen Jungen. »Vorwärts, mein Süßer. Lass uns weitergehen und diese Bäckerei wiederfinden.«
ZWEITER TEIL
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ACHTES KAPITEL
H alt den Mund geschlossen und deine Augen offen!«, befahl Douglas und musterte seinen Komplizen kritisch. Der Suppenschüssel-Haarschnitt war gut, wenn auch ein wenig schief: Snipe weigerte sich, unter der Schere ruhig zu sitzen, aber dadurch wirkte das Resultat umso überzeugender. Und Snipes mürrisches Gebaren schien ganz besonders gut geeignet zu sein für die Darstellung eines widerwilligen mittelalterlichen Lakaien.
»Ich gebe dir ein Messer, und ich möchte, dass du es versteckt aufbewahrst. Hast du verstanden?« Er schlug den halbwüchsigen Jungen auf die Wange, um dessen Aufmerksamkeit zu wecken. »Schau mir in die Augen und hör zu: Das Messer darf ausschließlich im äußersten Notfall benutzt werden. Ich will nicht, dass sich das wiederholt, was letztes Mal passiert ist, hast du gehört?«
Der Bursche fuhr mit seinem Daumen an der Klinge entlang, sodass ein Tropfen Blut hervorquoll, den er sogleich ableckte.
»Ja, es ist scharf genug«, fügte Douglas hinzu. »Bewahr es so auf, dass niemand es sieht. Ich erwarte keine Schwierigkeiten, doch man weiß ja nie.«
Er entließ seinen Diener, damit Snipe die Vorbereitungen für den Sprung beendete, und wandte sich nun der eigenen Verkleidung zu. Er zog das grob gewebte Gewand über seinen Kopf, richtete es an seinen Schultern aus und knotete den einfachen, aus Stricken gemachten Gürtel zu. Seine Nachforschungen über die Kleidung und das Benehmen der Menschen, die in der von ihm erwünschten Zeit und Region lebten, hatten ihn zu der Auffassung geführt, dass die Verkörperung eines reisenden Priesters, der von einem jüngeren Bruder begleitet wurde, bei den Einheimischen wohl kaum Bemerkungen hervorrufen oder sogar Argwohn erregen würde.
Douglas empfand wie immer ein wachsendes Gefühl gespannter Erwartung. Er fragte sich, ob alle Männer der Flinders-Petrie-Familie die gleiche Empfindung erlebten, wenn sie an ihre bevorstehenden interdimensionalen Entdeckungsreisen dachten; sein Vater und Großvater hatten allemal so viel durchblicken lassen. Für ihn war es wie der Wechsel einer Gezeitenströmung: ein Gefühl, dass die Geschehnisse nicht länger stagnierten, sondern begannen, sich unaufhaltsam in eine einzige Richtung auf ein unausweichliches Ziel zuzubewegen. Es war wie eine Welle, die ihn in diesem speziellen Fall zu einer lange vergessenen Zeit und einem lange vergessenen Ort tragen würde – in die Stadt Oxford des Jahres 1260. Wenn er die Positionen entlang des Leys bei früheren Ausflügen, die nur der Erforschung dieser Reisewege dienten, korrekt markiert hatte, dann besaßen sie beide, wie er schätzte, eine gute Chance, ein oder zwei Monate vor oder nach dem Oktober 1260 dort zu landen – eine Zeitspanne, in welcher der Universitätsbetrieb in vollem Gange und das Ziel ihrer Suche am leichtesten aufzufinden sein würde.
Die geplante Reise war die anspruchsvollste, die er bis dato unternommen hatte. Dafür war eine sehr lange und ausgeklügelte Recherche-und Forschungsarbeit erforderlich gewesen, die unter anderem die Anmietung eines Stadthauses in der Holywell Street einschloss, das als Bereitstellungs-und Trainingslager diente. Hier führte er seine Studien durch, bereitete Snipe auf dessen Aufgaben vor und sammelte die verschiedenartigsten Materialien, die sie für ihren Überfall auf die mittelalterliche akademische Welt benötigen würden.
Er hatte Theater-Näherinnen und -Ausstatter engagiert, damit sie für ihn
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