Das Königsmal
Traurigkeit, die seine Seele befallen hatte. Selbst die Steine der Zigeunerin, die Johanna wieder hervorgesucht hatte, wirkten nicht. Ja, sie fühlten sich seltsam kraftlos an, und eine innere Stimme sagte ihr, dass die Alte wohl gestorben sein musste und ihre Kräfte mit sich genommen hatte, hinüber in eine andere Welt. Schon seit Tagen hatte sie große Angst um Christians Leben. Immer, wenn sie ein Fenster oder die Tür öffnete, fürchtete sie, seine Seele könnte sich in einem unbeobachteten Moment davonstehlen und so ihrer Liebe entkommen.
Wenn Wiebke sich keinen Rat mehr wusste, ließ sie die Leibärzte ein oder den Hofprediger, der ein Abendmahl zelebrierte. Doch Christian winkte nur müde ab, drehte sich zur Seite, schmollend, um erst wieder zu ihr zurückzukehren, wenn alle Eindringlinge unter Gemurmel und Verbeugungen das Turmzimmer verlassen hatten. Alle Regierungsgeschäfte lagen brach, und dort, wo eine Entscheidung des Königs nötig war, handelte der Kronprinz – im Vertrauen darauf, dass sich sein Vater nicht wieder erholen und die eigenmächtigen Beschlüsse wütend rückgängig machen würde.
Alles schien erstarrt, wartete ab, bewegungslos, ein leise flüsterndes Publikum, das der letzten Vorstellung eines großen Mannes beiwohnte. Wiebke wusste nicht, wie viel Zeit sie schweigend mit Christian verbracht hatte, ihre Hand in seine gelegt, ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Manchmal ließ er Ablenkung zu, und sie schickte die Musiker in den Keller, damit sie unter dem Hörrohr für ihren König spielten. Gemeinsam lauschten sie den gedämpften Konzerten, und sie meinte, die Zeit in eine gegenstandslose Welt hineintanzen zu sehen.
Im Aufgang zum Turm nickte sie den Soldaten zu, die Wache hielten. Sie lief die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, und öffnete vorsichtig die Tür zum Kabinett. Christian saß aufrecht im Bett. Im flackernden Schein des Kerzenlichtes wirkte sein Gesicht blass, durchscheinend, doch sein unverletztes Auge strahlte sie an. Er lächelte und streckte seine Arme nach ihr aus.
„Christian.“ Wiebke umarmte ihn, von Freude überwältigt. „Es geht dir besser.“
Er antwortete nicht, doch er küsste sie. „Hilf mir auf. Ich möchte mit dir ausfahren, lass die Kutsche anspannen.“
Sie sah ihn prüfend an. „Es ist immer noch sehr kalt, die Ärzte haben dir jede Anstrengung verboten.“
„Ich weiß, was ich tue. Und ich muss hier raus. Hilf mir, bitte.“
Sie schüttelte den Kopf, gehorchte aber, gab seine Befehle weiter und begann, ihn Schicht um Schicht in warme Kleidung zu hüllen. Christian ließ es wie ein Kind geschehen, und sie spürte, wie begierig er war, das Bett zu verlassen. Das erste Mal seit Wochen fühlten sich seine Hände warm an, und sein Atem, der zuletzt rasselnd und unregelmäßig geklungen hatte, floss ruhig.
Inzwischen war die Wintersonne aufgegangen, zögernd kämpfte sie sich durch die dichten Schneewolken. Licht fiel durch die Fenster im Osten und tupfte helle Punkte auf die Wände. Lächelnd tastete Christian nach den Sonnenflecken, und ihr war, als ob er einen Freund begrüßte. Dann streckte er die Hände nach ihr aus, und Arm in Arm verließen sie langsam das Kabinett.
Auf der Treppe stützte ihn die Leibwache, ja, beinahe trugen die Männer ihren König die Stufen hinunter, und Wiebke musste erschrocken erkennen, wie dünn und nutzlos seine Beine geworden waren. Tränen rannen ihr über die Wangen, und sie wusste nicht, ob sie Freude oder Angst empfinden sollte.
Unten war die Kutsche des Königs vor dem Schlossportal vorgefahren. Vorbei an Wachen und anderem Personal, zogen sie durch Rosenborgs prächtige Halle, und Christian nickte den ungläubigen Gesichtern seiner Untergebenen zu, die ihren Herrn auf dem Sterbebett vermutet hatten. Plötzlich gab es Aufruhr, laute Stimmen, der Reichshofmeister und sein Gefolge stürmten durch die Halle.
„Was geht hier vor?“ Corfitz Ulfeldt stellte sich Wiebke in den Weg und hielt sie fest.
„Ihr tut mir weh.“
„Was passiert hier?“
Christian schüttelte die stützenden Hände seiner Begleiter ab. Er richtete sich auf. „Ich wünsche, in die Stadt zu fahren, Ulfeldt. Geht mir aus dem Weg.“
„Majestät, Ihr seid schwach. Ich bitte Euch, im Palast zu bleiben, Sir.“ Der Reichshofmeister blickte den König unsicher an, Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn.
„Es ist mein Wunsch auszufahren. Ich bin Herr meiner Sinne, also hindert Euren König nicht daran,
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