Das Komplott (German Edition)
füllt sich im Laufe des Vormittags, und Henry bringt die Besuche gern rasch hinter sich. Laut Vorschrift dürfen Angehörige die Gefangenen jeden Samstag und Sonntag von sieben bis fünfzehn Uhr sehen, aber Henry reicht eine Stunde. Mir auch.
Wenn – was ich mir kaum vorstellen kann – alles nach Plan läuft, könnte es der letzte Besuch meines Vaters sein. Gut möglich, dass ich ihn erst in vielen Jahren wiedersehe, wenn überhaupt, aber das kann ich nicht ansprechen. Ich nehme die braune Tüte mit dem Gebäck von Tante Racine und knabbere an einem Keks. Wir sprechen über meinen Bruder Marcus und dessen missratene Sprösslinge und über meine Schwester Ruby mit ihren Musterkindern.
Winchester kommt durchschnittlich auf ein Tötungsdelikt im Jahr, und diese Quote wurde letzte Woche erreicht, als ein Ehemann früher als üblich von der Arbeit nach Hause kam und einen fremden Pick-up in seiner Einfahrt vorfand. Er schlich sich ins Haus und überraschte seine Frau mit einem seiner Bekannten dabei, wie beide voller Elan ihre Ehegelübde brachen. Der Ehemann holte seine Schrotflinte, und als der Hausfreund das sah, versuchte er, sich splitternackt durch einen Sprung aus dem geschlossenen Fenster zu retten. Das misslang, und er geriet unter Beschuss.
Henry denkt, der Schütze kommt möglicherweise ungeschoren davon, und genießt es, mir die Geschichte zu erzählen. Offenbar ist die Stadt in zwei Lager gespalten: Die einen halten den Mann für schuldig, die anderen haben volles Verständnis für sein Verhalten. Ich kann mir vorstellen, wie die Gerüchteküche in den Cafés im Stadtzentrum brodelt, in denen ich früher Stammgast war. Henry hält sich lange mit der Geschichte auf, wahrscheinlich weil wir beide nur ungern über unsere familiären Probleme reden.
Irgendwann lässt es sich nicht mehr vermeiden. Er wechselt das Thema. »Sieht so aus, als will das kleine weiße Mädchen abtreiben. Vielleicht werde ich doch nicht Urgroßvater.«
»Delmon bringt sich bestimmt gleich wieder in Schwierigkeiten«, sage ich. Wir erwarten von dem Jungen nur das Schlechteste.
»Am besten lassen wir ihn sterilisieren. Offenbar ist er zu dumm, um ein Kondom zu benutzen.«
»Kauf ihm trotzdem welche. Marcus hat bestimmt kein Geld dafür.«
»Ich sehe den Jungen nur, wenn er was braucht. Wahrscheinlich muss ich auch noch die Abtreibung bezahlen. Die Familie des Mädchens scheint mittellos zu sein.«
Beim Thema Geld muss ich unwillkürlich an die Belohnung in der Fawcett-Sache denken. Hundertfünfzigtausend Dollar. Ich habe noch nie so viel Geld gesehen. Vor der Geburt von Bo stellten Dionne und ich irgendwann fest, dass wir sechstausend Dollar gespart hatten. Wir legten die Hälfte in einem Investmentfonds an und gönnten uns mit dem Rest eine Kreuzfahrt. Danach hatten wir keine Lust mehr auf Sparsamkeit und brachten es nie wieder auf eine solche Summe. Kurz bevor gegen mich Anklage erhoben wurde, belasteten wir unser Haus bis zum letzten Cent, weil wir so flüssig wie möglich sein wollten. Das Geld ging für Anwalts- und Gerichtskosten drauf.
Ich werde reich sein, aber auf der Flucht. Ich will mich nicht zu früh freuen, doch ich kann nicht anders.
Henry braucht ein neues linkes Knie, und wir reden eine ganze Weile darüber. Er hat sich immer über alte Leute lustig gemacht, deren einziges Thema ihre Wehwehchen sind, aber er selbst ist auch nicht besser. Nach einer Stunde wird ihm langweilig, und er will weg. Ich bringe ihn zur Tür, wir schütteln uns steif die Hand. Als er geht, frage ich mich, ob ich ihn jemals wiedersehen werde.
Sonntag. Kein Wort vom FBI oder sonst irgendwem. Ich lese nach dem Frühstück vier Zeitungen und erfahre praktisch nichts Neues über Quinn Rucker und seine Verhaftung. Allerdings gibt es eine wichtige Entwicklung. Die Washington Post berichtet, dass der Bundesanwalt für den südlichen Bezirk von Virginia am nächsten Tag mit dem Fall vor die Anklagejury gehen wird. Am Montag. Wenn die Geschworenen beschließen, Anklage zu erheben, bin ich theoretisch und gemäß unserer Vereinbarung ein freier Mann.
Im Gefängnis gibt es erstaunlich viel organisierte Religiosität. In unserer Not suchen wir Trost, Frieden, Zuspruch und Führung.
Wir sind gedemütigt und beschämt worden, man hat uns unsere Würde, unsere Familie und unseren Besitz genommen und uns nichts gelassen. In die Hölle geworfen, richten wir den Blick nach oben auf der Suche nach einem Ausweg. Es gibt einige Muslime, die jeden Tag
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