Das Kopernikus-Syndrom
Schlinge.
»Nein«, erwiderte Lucie und trat aus ihrem behelfsmäßigen Büro. »Warum? Was ist passiert?«
Louvel deutete auf den Bildschirm. In den Nachrichten wurden Bilder von einem Leichnam gezeigt, der auf einem Gehweg lag, bedeckt mit einem weißen Tuch und umringt von Polizisten und Hilfskräften.
»Morrain wurde vor knapp einer Stunde vor seinem Haus erschossen«, erklärte Damien, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen.
Diese Nachricht ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Fassungslos fiel ich in einen Sessel. Das konnte kein Zufall sein. Aber wie konnten sie es wagen?
»Das … das ist doch nicht möglich«, stammelte ich.
»Sie haben wohl erraten, dass wir dank seiner Hilfe den Zugang zu den Räumen der Firma Dermod gefunden haben. Sie haben ihn abgemurkst.«
»Das ist doch nicht möglich«, wiederholte ich, weil mir nichts anderes einfiel.
Und doch war es die Wirklichkeit, wie die Nachrichten im Fernsehen bewiesen. Im nächsten Augenblick zeigte man ein neueres Foto des Pressesprechers der EPAD. Es fiel mir schwer, zu begreifen, dass der Mann, den ich am Tag zuvor getroffen hatte, tot war.
Ganz unten am Bildschirmrand entdeckte ich meinen Namen, in dem Lauftext, in dem die wichtigsten Nachrichten zusammengefasst waren: »Dem Sprecher des Innenministeriums zufolge soll der Mord an Monsieur Morrain mit dem Attentat vom 8. August zusammenhängen. Von dem Hauptverdächtigen Vigo Ravel fehlt immer noch jede Spur …«
Seltsamerweise ließ es mich kalt, meinen Namen zu lesen. Er gehörte mir bereits nicht mehr. Und ich wusste ja, dass ich unschuldig war. Ich fragte mich jedoch, ob es uns eines Tages gelingen würde, das zu beweisen. Hatte es überhaupt eine Bedeutung? Für mich zählte vor allem, die Wahrheit herauszufinden. Sie dann der ganzen Welt kundzutun war nicht meine Sache. Schließlich war das eher die Rolle von SpHiNx. Für mich war das eher zweitrangig. Oder kaum denkbar. Vielleicht hatte ich mich derart auf mein Kopernikus-Syndrom versteift, dass ich nicht mehr an die Möglichkeit glaubte, dass man mich eines Tages ernst nehmen würde, auch wenn ich das inzwischen tat. Louvel glaubte mir, Lucie auch, und Agnès hatte mir geglaubt. Genügte das nicht?
»Damien, ich habe den Eindruck, dass eure Expedition als Kriegserklärung aufgefasst wurde«, murmelte Lucie.
»Auf jeden Fall haben wir den Beweis, dass sie vor nichts zurückschrecken. Und dass sie … nun ja, nervös sind.«
»Wer sind ›sie‹? Dermod?«
»Wer sonst?«, erwiderte Louvel spöttisch.
Ich vergrub den Kopf in den Händen, war bedrückt. Auch wenn ich mich schließlich damit abgefunden hatte, ein bevorzugtes Ziel der Polizei zu sein, konnte ich es nicht akzeptieren, dass ein Unschuldiger an meiner Stelle starb. Greg und jetzt Morrain. Der Presssprecher der EPAD war ein mutiger Mann gewesen, der sich dem System nicht gebeugt hatte. Ohne ihn hätten wir wohl den Eingang zu den geheimnisvollen Räumlichkeiten der Firma Dermod nie gefunden. Und er war erschossen worden. Wofür das alles? Für wen? Für mich?
Badji, der etwas abseits saß, vermutlich aus Diskretion, starrte wie gebannt auf den Fernseher. Selbst er, der bisher so ausgeglichen gewirkt hatte, schien aufs höchste bestürzt zu sein.
»Wie geht es deinem Arm?«, erkundigte sich Lucie, um das Thema zu wechseln.
»Geht schon«, erwiderte Louvel schnell. »Doktor Daffas hat wie immer Wunder gewirkt. Und du? Hast du auf den Festplatten etwas gefunden?«
Die junge Frau hob die Augen zum Himmel.
»Damien, ich beschäftige mich gerade mal zwei Stunden damit. Wir brauchen Tage, wenn nicht Wochen, um alles zu analysieren. Erst recht, da wir jetzt keinen Zugang mehr zu unseren Büroräumen haben. Alle meine Programme sind dort gespeichert, und die Rechner hier sind nicht gerade auf dem neuesten Stand. Sak und Marc werden wohl vorbeikommen müssen, um mir zu helfen. Auf diesen beiden Festplatten gibt es jede Menge zu untersuchen. Videos, Buchungsbelege, Tabellen, Textdateien und dann noch jede Menge Unterlagen in einem speziellen Format von Dermod. Kurzum, viel zu viel Arbeit für einen Einzelnen.«
»Aber du hast trotzdem etwas gefunden?«, beharrte Louvel.
Ich ahnte, dass er nicht ohne Grund so hartnäckig war. Er hatte wohl, genau wie ich, bemerkt, dass sich etwas im Blick der jungen Frau verändert hatte, mit anderen Worten: Sie hatte etwas gefunden.
»Nun … ja«, gab sie endlich zu.
Louvel war wie elektrisiert.
»Das Protokoll 88?«
Lucie
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