Das Krähenweib
auf das Berliner Stadttor zu. Zwei Wächter in schlechtsitzenden und verwaschenen Uniformen nickten Seraphim beiläufig zu. Er erwiderte den Gruß, fuhr die Torstraße hinauf und machte dann auf einem kleinen Platz halt.
»Wenn Ihr dieser Straße dort folgt, kommt Ihr in ein Händlerviertel. Rechts«, er deutete auf eine weitere Straße, »findet Ihr mehrere respektable Schenken. Vielleicht kann man dort eine Magd gebrauchen.« Seraphim half Annalena samt ihrem Bündel vom Kutschbock. »Ich wünsche Euch alles Gute.«
»Ich danke Euch für alles. Möge Gott es Euch vergelten.« Annalena lächelte herzlich, straffte dann die Schultern und drehte sich um. Ohne sich noch einmal umzublicken, ging sie los.
Seraphim blieb so lange auf dem Kutschbock stehen, bis er sie aus den Augen verlor. Dann wendete er seinen Wagen und fuhr in Richtung Tor zurück.
Berlin wirkte für einen Fremden unüberschaubar. Annalena irrte auf teilweise gepflasterten und teilweise verschlammten Wegen durch die Stadt.
Auch hier musste es einen Scharfrichter und eine Fronerei geben, doch dorthin wollte sie nicht – wenngleich sie sich sicher war, dass man sie dort aufnehmen würde. Die Angst vor Mertens war einfach zu groß. Außerdem wollte sie ein anderes Leben anfangen.
Doch wo sie auch hinkam und nach Arbeit fragte, wies man sie ab. Einige Leute jagten sie gleich davon, andere erklärten ihr umständlich, wie schwer die Zeiten waren und dass man sich nicht mehr Personal nehmen durfte, als man bezahlen konnte.
Am Nachmittag, als sie das Gefühl hatte, ihre Füße würden lichterloh brennen, kam sie zu einer weiteren Schenke. Das Gebäude war von Fachwerkbalken durchzogen und wirkte etwas windschief. Als Annalena die Tür öffnete, strömte ihr der Geruch von ranzigem Fett vermischt mit Kernseife und Bier entgegen. Nur zwei Gäste saßen an einem der Tische. Angelockt vom Klappen der Tür trat eine Frau aus einem Hinterraum, vermutlich der Küche, an den Tresen. Sie war mager und bleich, als würde eine Krankheit an ihr zehren.
»Seid Ihr die Wirtin?«, fragte Annalena und versuchte, die Frau nicht allzu erschrocken anzustarren.
»Ja, die bin ich! Haußmannsche nennt man mich. Weshalb fragst du?«
»Ich wollte wissen, ob Ihr hier vielleicht eine Magd gebrauchen könnt. Ich kann fest anpacken und …«
Die Wirtin hob ihre knochige Hand. »Bevor du deine Spucke vergeudest, ich such keine. Aber wenn du Arbeit willst, geh zum Röber, der hat verlauten lassen, dass er ’ne Magd für sein Kontor sucht. Kann dir nichts versprechen, aber versuchen kannst es mal.«
»Und wo kann ich das Haus des Krämers Röber finden?«
»Geh die Straße hinunter, an der Kreuzung nach links und dann immer die breite Straße hinauf. Es ist der Gewürzhändler. Das riechst du dann schon.«
Annalena bedankte sich und verließ die Schenke. Mittlerweile färbten sich die Wolken blutrot vor einem purpurfarbenen Hintergrund. Wenn sie beim Kaufmann vorsprechen wollte, musste sie sich beeilen, bevor er seine Tür verschloss und sie bis zum kommenden Morgen warten musste.
Röbers Kontor war tatsächlich leicht zu finden, sie musste einfach ihrer Nase folgen. Schon von draußen strömte ihr ein berauschender Duft nach Gewürzen, Tabak und Parfüm entgegen. Das Haus war zwar nicht das prächtigste Gebäude, das Annalena in Berlin gesehen hatte, aber dennoch stattlich genug, um einem Kaufmann zu gehören.
Durch ein offenstehendes Fenster vernahm sie Männerstimmen. Einen Moment zögerte sie. Ein Gewürzkaufmann würde sicher hohe Anforderungen an sein Personal stellen. Und vielleicht hatte er ja schon ein Mädchen angestellt. Wenn du nicht nachfragst, wirst du es nicht erfahren, sagte sie sich und öffnete die Tür.
An einer Wand des großen Verkaufsraumes befand sich eine lange Theke, ähnlich wie in einem Wirtshaus. Eine große Schalenwaage stand darauf, außerdem zahlreiche Tiegel, Töpfe, hohe Gläser und Schachteln. Die Regale dahinter erhoben sich bis zur Decke.
Annalena betrachtete das alles fasziniert, bis ein großer, hagerer Mann durch eine Seitentür trat. Sein graumeliertes Haar war zu einem Zopf zusammengenommen, der nicht so ordentlich war, wie er eigentlich sein sollte. Er trug einen dunklen Rock, darunter ein Hemd mit Spitzenkragen und ebenfalls mit Spitze besetzten Ärmelaufschlägen.
Er musterte Annalena von Kopf bis Fuß, so intensiv, dass sie beschämt den Blick senkte. Auch ohne einen Spiegel vor sich zu haben, wusste sie, wie sie aussah.
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