Das Kreuz der Kinder
»Laßt uns gemeinsam in den Tod springen, Pol!«
Der zögerte noch, während sie schon ein Bein über die
Reling geschwungen hatte. Doch da stürzte Blanche herbei
und umklammerte angstvoll ihren Fuß. Das reichte, um
einige Piraten auf die Gruppe aufmerksam zu machen, sie
warfen sich auf sie, rissen sie auseinander und prügelten
sie – Frauen und Männer getrennt hinüber auf ihre
Sklavensegler, die jetzt dicht bei dicht an den Bordwänden
angelegt hatten. Es war ein fürchterliches Gebrüll, mit
Stockhieben wurden die Kinder – kaum noch Tausend an
der Zahl – von Bord gejagt, die Schmerzensschreie der
Geschlagenen, das Heulen der Wut und der Verzweiflung
und das Weinen und Wimmern der Verzagten erfüllte die
Luft. Dennoch ging das Umladen sehr rasch vonstatten.
Und für schwere Fälle von Aufsässigkeit hatten die
Sklavenhändler Verschlage wie Tierkäfige zur Hand.
Stephan machte zwar nicht die geringsten
Schwierigkeiten, sondern kroch nur am Boden auf allen
Vieren, doch der mit dem Verlauf höchst zufriedene Hugo
wollte sich ihm noch einmal erkenntlich zeigen.
»Das ist der König von Jerusalem!« rief er den
Sarazenen zu. »Der Gefährlichste aller Ungläubigen!
Steckt ihn in den Käfig, damit alle ihm zujubeln können!«
›Guillem das Schwein‹, das schwitzend neben ihm stand,
sah, wie Blanche vorbeigetrieben wurde. Diesmal sollte
sie ihm nicht entgehen, er griff zu, aber das Mädchen
unterlief ihn, sah die noch offene Käfigtür und wutschte
hinein – warf sich dem weinenden Stephan zu Füßen. Der
›Eiserne Hugo‹ knallte mit Wonne die Gittertür vor
Guillems Nase ins Schloß. Er fühlte sich wahrlich
erleichtert.
Pol war auf das größte Boot der Sklavenhändler
gestoßen worden, auf dem Luc schon seine Hetze eifrig
und erfolgreich betrieb. Die Piraten betrachteten den
Einpeitscher in der Priestersoutane als eine Art gehobenen
Büttel ihrer Geschäftspartner, der seiner Aufgabe etwas
übertrieben nachkam. Der Vicarius schrie die Kinder an,
die längst angstvoll und – wie ihnen geheißen –
regungslos auf den Planken kauerten, und beschwor
Jehovas zornige Rache, die Grausamkeiten des Jüngsten
Gerichts und alle Qualen der Hölle auf ihre geduckten
Häupter. Endlich war er der große Inquisitor! Verstrickt in
seine Machtgelüste und geifernden Haßtiraden bemerkte
er Pol nicht, bis dieser vor ihm stand und ihm die Faust ins
Gesicht stieß.
»Das Blut dieser Unschuldigen wird über dich
kommen!«
Pol dachte an seinen gehenkten Vater. »Reicht dir das
Unheil nicht, das die Kirche –!?« fauchte er den Vicarius
an, dem die Wucht des Fausthiebs etliche Zähne und die
Sprache verschlagen hatte, nicht aber sein messerscharfes
Reaktionsvermögen. Er stand mit dem Rücken zur Reling.
»Du wagst es, dich gegen deinen Meister aufzulehnen?!«
spuckte er dem verblüfften Pol sein Blut ins Gesicht, griff
gleichzeitig mit beiden Händen nach seinem Angreifer,
ließ sich rücklings über Bord fallen, fest in Pol verkrallt,
der hilflos mit ihm stürzte. Luc konnte schwimmen, Pol
nicht – das wußte er. Mit dem Aufschlag ins Wasser
entbrannte ein wüster Zweikampf, denn Pol war es jetzt
gleichgültig, ob er ertrank oder nicht! Diesen Verräter
würde er mit sich in die Tiefe ziehen! Er umklammerte
Luc, so daß dieser keinerlei Gewinn aus seinem Können
zu schlagen vermochte, im Gegenteil, er mußte um sein
Überleben fürchten. Die Sarazenen hatten dem
keuchenden Ringen anfangs nur zugeschaut, jetzt griffen
sie zu ihren Rudern und prügelten auf die beiden
Streithähne ein, dabei winkelten sie die Blätter mehr und
mehr ab, so daß ihre scharfen Kanten nicht nur Schultern
und Hände trafen, sondern bald auch einen der Schädel –
der blutüberströmt in den Fluten versank. Es war Pol.
Melusine hatte von ihrem Schiff aus im allgemeinen
Getümmel und Geschrei von dem Zweikampf nichts
mitbekommen. Zusammen mit vielen anderen Mädchen
stand sie zusammengepfercht, aber fast ohne Bewachung.
Sie erkannte erst Pols blutverschmiertes Gesicht in dem
Moment, wo es unterging. Ohne sich zu bedenken,
hechtete sie auf die Stelle zu, wo sie Pols Körper
vermutete. Die Piraten vermochten weder ihre Absicht zu
erfassen noch die unerhörte Tat, vor allem, daß eine Frau
sie wagte. Da Melusine nicht wieder auftauchte, galt die
Verwirrte als in den Wellen ertrunken. Es blieb den
Sarazenen auch keine Zeit, sich weiter um sie zu scheren,
denn von Palermo kommend erhoben sich
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