Das Kreuz der Kinder
Wirren der
Gemüter nahezu unbeeindruckt bleibt, weder von den
Schinken, die von der Balkendecke baumeln, noch von
den Gehängten an ihren Stricken. Stephan ist nur über
eines empört: Keiner der Mönche, keiner der Ritter, die im
Zeichen des Kreuzes angetreten sind, nimmt das
dringlichste Gebot der Stunde wahr, keiner der Herren
denkt an den Heiland, der für sie gelitten habe, für sie
gestorben sei – geschweige denn an den Ort, wo all dies
geschah: Jerusalem! Luc macht ihm Zeichen, er solle die
Leiter näher an das Loch schieben, was der Hirte als
Zustimmung ansieht.
»Lahem alharam!«
Der Emir kochte. »Könnt ihr jetzt vielleicht Leiter und
unsauberes Fleisch hintanstellen!« fuhr er Rik an, obgleich
es Timdal war, der sich genüßlich über dieses Thema
ausließ. »Melusine scheint dir wenig bedeutet zu haben,
wenn du es zuläßt, daß sie in einen verschlammten
Brunnenschacht gesprungen und nicht wieder aufgetaucht
ist!«
Rik sah sich genötigt weniger Timdal zu verteidigen, als
den Emir in die Schranken zu weisen. »Würde ich dem
Rad des Schicksals so oft in die Speichen greifen, wie Ihr
das versucht, wäre der Karren unserer Erzählung längst im
Morast der unsicheren Erinnerung steckengeblieben!«
Er sagte das so gespreizt, daß der Zorn des Freundes
schon ob dieses Bildes verrauchte.
»Nun holt sie mir bitte heraus!« bettelte der Emir, und
Rik willigte lächelnd ein. Er warf Timdal einen
auffordernden Blick zu, seinen Bericht an der Stelle
wieder aufzunehmen, an der Kazar Al-Mansur sich über
die Schweinskeulen erregt hatte. Der Mohr grinste
zustimmend.
Bericht des Mohren
Stephan läßt abrupt die Leiter fahren, weil er beide Hände
inbrünstig faltet und den Novizen um ein Schreiben an den
Allerhöchsten bittet, das den Überbringer wärmstens
empfiehlt und bevollmächtigt, für eine große Pilgerei aller
Kinder zur Errettung des heiligen Jerusalem zu predigen.
Luc auf der schwankenden Leiter fühlt sich eher genötigt
als geehrt und steigt mit wäßrigem Mund ob des
entgangenen Leckerbissens zu dem Quälgeist hinab. Auch
wenn er den Hirtenknaben für einen ausgemachten Narren
hält, läßt er sich huldvoll zum Abfassen des Schreibens
herbei, das er in der richtigen Annahme, daß Stephan nicht
lesen kann, auch noch ausschmückt und in seinen
Ansprüchen blumig übertreibt.
»Das wollt ihr mit bitte ersparen!« wandte sich der Emir
jetzt an den Mohren, »so wichtig es für den weiteren
Verlauf der Geschichte sein mag!«
Timdal grinste entgegenkommend.
Bericht des Mohren
Melusine de Cailhac hat am Boden des Schachts hinter dem
Eisengitter mit Pol einen unerwarteten Schicksalsgenossen
getroffen, außer, daß Pol raus will, um nach seinem Vater
zu forschen, während Melusine sich da oben erstmal nicht
mehr sehen lassen sollte. Auf jeden Fall müssen sie die
Gitterstäbe aus dem Mauerwerk lösen, denn die Wände des
Schachts, in den Melusine gestürzt ist, sind zu glatt, um
ohne Hilfe wieder herauszugelangen. Mit zwei
unhandlichen Eisen, die Pol in seinem Verlies aufgetan,
kratzen und schaben sie mühselig von beiden Seiten an der
Verankerung des Gitters, rütteln und zerren an den Stangen,
bis die Mauereinfassung zu bröckeln beginnt.
Aber auch all dieses Mühen vermag Pol nicht von dem
quälenden Verdacht abzulenken, daß mit seinem Vater
Furchtbares geschehen sei. Melusine muß ihm immer
wieder beschreiben, wie die Gehängten aussahen, dabei
hatte sie selbst nur einen schnellen Blick auf die Opfer
werfen können, gerade ausreichend, um sicher zu sein, daß
keiner ihrer blöden Vettern darunter war – dann war sie
schon in dieses rettende Loch gesprungen. Da beide nicht
wissen, daß Vater Mas in der Rüstung des Burgherrn
ergriffen wurde, weben sie, sich gegenseitig stärkend, an
einem grobmaschigen Tuch der Hoffnung, das zumindest
hält, bis sie das Gitter beseitigt haben. Den Kopf aus dem
Schacht zu stecken, scheint ihnen unnötig gefährlich. So
stemmen sie gemeinsam auch noch die schwere Kellertür
auf, die Vater Mas noch eigenhändig verriegelt hatte, um
seinen Sprößling vor unbedachtem Tun zu schützen.
Die Dunkelheit senkt sich schon über das geschundene
Bordàs, als sie endlich aus den verkohlten Trümmern des
Hauses kriechen. Pol erkennt seinen Vater sofort – es
waren seine Stiefel, die er gesehen hatte, auch wenn sie
der Leiche inzwischen längst von den Füßen gezogen
waren. Er kann jetzt nicht mehr um ihn weinen –
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