Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
der um diese Zeit für gewöhnlich seinen Laden öffnete. Der erste Ruf des Muezzins war zwar längst verhallt, doch hatten die Ortsansässigen Kingswears – wie die Bewohner der meisten Ortschaften im Vereinigten Königreich – mittlerweile gelernt, sich nach diesem kollektiven Wecken wider Willen noch einmal umzudrehen und die Augen zu schließen, bis zum Schrillen des eigentlichen Weckers zu der Uhrzeit, die sie selbst bestimmten.
Die Straffords hatte inzwischen ihren Kindern Scarlett und Thomas die Auswanderungspläne und die plötzliche Kündigung des Vaters mitgeteilt, was für die Eltern nicht leicht gewesen war, weshalb es sie umso glücklicher machte, daß die beiden es ohne Murren aufnahmen. Tommi reagierte sogar mit einiger Begeisterung, die er kaum verbergen konnte. Alles, was den Hauch von Ungewißheit, Abenteuer und Gefahr herüberwehte und gleichsam in sich einschloß, so auch eine lange Seereise, wie sie nach Neuseeland nötig sein könnte, und einen Neustart in unbekannten Gefilden, beflügelten die Phantasie des Jungen. Kurz: vieles, was andere geschreckt hätte, war so ganz nach dem Herzen des Knaben und ließ ihn frohlocken. Es kam dieser bewundernswerte Zug Thomas‘ nicht von ungefähr, denn auch George war als Heranwachsender ein wahrer Draufgänger und Abenteurer gewesen. Erst kürzlich hatte der Vater dem Sohn zwei seiner alten Jugendromane zum Geschenk gemacht: „Robinson Crusoe“ und „Die Schatzinsel“. Beide hatte Thomas binnen zweier Wochen verschlungen, und es dürstete ihn nach eigenen Erlebnissen, die er eines Tages zu Papier bringen könnte, so er sie überleben würde.
Mit einem großen Laib Brot unter dem Arm und einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht kam George wieder aus der Bäckerei gestolpert. Er entschied sich, einen kleinen Umweg zu machen – hinaus aus dem Dorf zum Kingswear Castle, denn schließlich mußte er nicht zur Arbeit und das Frühstück konnte noch eine halbe Stunde warten. Am Fuß der Feste angekommen oder vielmehr zehn Meter davon entfernt, denn es war ein Hochsicherheitszaun darum gezogen, bestaunte er das Bauwerk aus dem 15. Jahrhundert, das als befestigte Artilleriestellung fungiert hatte, eine Weile aus relativer Nähe, wenn man so möchte, denn hinein konnte man nicht. Die Festung war seit Jahrzehnten in Privatbesitz. Seit etwa zehn Jahren gehörte sie einem saudischen namens Scheich Abdul. Er hatte sein neues Besitztum allerdings nur einmal besucht, soweit George auf dem laufenden war, es aber hermetisch absperren und bewachen lassen. Das wurmte Mr. Strafford ein wenig, denn aus den Erzählungen seines Vaters wußte er, daß die Burg früher für jeden zugänglich und ein wahres Spielparadies für junge Buben wie Tommi gewesen war. Seine Familie war, was die väterliche Seite anging, immer hier in den South Hams in der südwestenglischen Grafschaft Devon ansässig gewesen. Seine Mutter stammte aus Blackpool, einer Küstenstadt an der Irischen See.
Kapitel V
Behaglich streckte Stella ihre Vorderläufe aus und ließ sich inmitten der Wohnzimmerstube der Bühlers nieder, wo Sohn Erik und seine Eltern gerade beisammensaßen und ihre Auswanderungspläne schmiedeten. Recht teilnahmslos verfolgte sie das Gespräch und hatte dabei nur ein Auge halb geöffnet, doch ihrem scharfen Gehör entging auch nicht das geringste. Kaum, daß ihr Name fiel, richtete sie ihre spitzen, stehenden Ohren, Satellitenschüsseln gleich, nach vorn, hob ihren Kopf etwas, und die Augenlieder waren weit geöffnet, so, als erwarte sie einen Befehl.
„Du merkst, daß es um Dich geht, Stella, hab ich Recht?“ sagte Martin Bühler und streckte dabei seine Hand nach dem Tier aus, um es hinter den Ohren zu kraulen. Tatsächlich ging es um sie, denn die Familie mußte auch über die Zukunft des Vierbeiners entscheiden. Würden sie Stella mitnehmen können, oder mußte sie zurückbleiben? Das war die Frage. In ein Tierheim sollte sie nicht abgeschoben werden, da waren alle einer Meinung, aber wenn sich – durch eine glückliche Fügung – Freunde oder Bekannte fänden, die sich um das Tier kümmern wollten, meinte die Mutter, dann wäre sie zufrieden.
Hier widersprachen der Sohn und der Vater heftig, die ihre treue Schäferhündin niemals weggeben würden, wie sie sich ausdrückten. „Aber dann könnte sie hier im Dorf bleiben, daran hängt sie doch auch“, wendete Luise ein. „Stella ist eine Hündin und keine Katze“, fauchte Martin, währenddessen er ihr noch
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