Das Kreuz des Zitronenkraemers
war wieder aufgestanden. Statt Nahrungsmittel zog er eine neue Kette aus der Tasche empor. Er hatte also vorgesorgt. Er befestigte die Kette mit einer Seite an Andreas rechter Handschelle. Mit der anderen an dem Ring in der Wand.
Die linke Hand befreite er aus der Handschelle.
Dann suchte er wieder in der Tasche. Andreas erinnerte sich. Er hatte es ihm angedroht. Er hatte Angst, wie noch nie zuvor. Schweiß strömte aus allen Poren. Sein Atem war schnell und flach, sein Puls raste.
Klinsmann packte in aller Ruhe die Geflügelschere aus der Tasche. „Hier, nimm das!“ Er hielt Andreas zwei kleine blaue und eine dicke weiße Tablette vors Gesicht. „Was…was ist das?“ Seine Stimme zitterte wie Espenlaub. „Starke Beruhigungsmittel, Tranquillizer, oder wie die Dinger auch immer heißen, und ein Antibiotikum. Zur Vorbeugung, sozusagen. Aus dem Bestand meiner Mutter.“ Er hielt einen Moment inne. „Also schluck sie mit Ehren.“
Er schob Andreas die Tabletten in den Mund und reichte ihm eine frische Flasche Wasser.
„Du hast selbst zugestimmt, dass deine Frau noch ein wenig Überzeugung braucht, stimmt’s?“
Andreas wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Er hatte sich vor lauter Zittern beim Trinken aus der Wasserflasche voll gesabbert. „Also, wollen wir ihr ein wenig Motivation liefern. Ich hab`s dir ja schon mal erklärt.“
Andreas sah, dass er sich in Seelenruhe auf den kleinen Holzstuhl setzte. Dann nahm er eine Sprühflasche aus der geblümten Tasche und begann damit, die Geflügelschere einzusprühen. Es roch nach Krankenhaus.
Nach einiger Zeit fühlte Andreas sich schon viel besser. Er hatte keine Angst mehr. Sein Puls war ruhig. Er atmete tief. Warum hatte er sich nur so aufgeregt? Alles war doch gut. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Er sah Klinsmanns Gesicht. Es schwankte ein bisschen hin und her. Der wird doch nichts getrunken haben? Ach ja. Aber was soll’s. War doch alles gar nicht so schlimm. Jetzt konnte er sogar Claire sehen. Sie hatte das weiße Strandkleid an, das er so an ihr liebte. Sie winkte ihm zu. Er wollte zurückwinken aber in dem Moment nahm sie seine Hand in ihre. Warum drückte sie so fest? Warum tat sie ihm so schrecklich weh? Er schrie laut auf vor Schmerz. Er hörte sein eigenes Echo wie aus weiter Ferne zu ihm zurück schwappen. Wie Wellen. Aber der Schmerz war so rasend. So stechend und quälend. Warum tat sie ihm das an? Er wollte seine Hand wegziehen. Aber sie ließ nicht locker und hielt ihn ganz fest. Es brannte und klopfte so sehr. Langsam wurde alles dunkel. Dann versank er ganz in der Dunkelheit. Endlich.
Kapitel 16
Erleichtert fuhr Anne vom Krankenhaus nach Hause. Gott sei Dank war Hannes nichts Schlimmeres passiert. Trotzdem, diese ganze Geschichte wurde ihr doch langsam unheimlich. Das alles hätte auch ganz anders ausgehen können. Nicht auszudenken, Hannes hätte wirklich eine Hirnverletzung davon getragen. Vielleicht sogar noch mit bleibenden Schäden. Er war ja so schon vergesslich genug. Je mehr Anne darüber nachdachte, umso mehr Angst verspürte sie. Viel zu leichtsinnig waren sie beide bisher mit der Sache umgegangen. Anne beschloss, vorsichtiger zu sein. Zum Beispiel würde sie nicht mehr alleine ausreiten. Anne wurde jetzt noch ganz bange ums Herz, wenn sie daran dachte, dass sie noch kürzlich allein mit ihrer Stute mitten im Wald unterwegs war. Und dann hatte sie noch ausgerechnet am Zitronenkreuz gemütlich eine Rast eingelegt. Das Zitronenkreuz. Anne spürte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren trat. Zwei Morde hatten an diesem Ort schon stattgefunden. Nun war Hannes dort brutal zusammen geschlagen worden. Ob auch Hannes sterben sollte? Ob ihn jemand hatte umbringen wollen?
Gritzfeld und Krischel. Mein Gott, in was für einer Welt leben wir eigentlich? Anne bog auf ihren Parkplatz ein. Sie blieb noch eine Zeit im Auto sitzen. Hannes kannte Gritzfeld und Krischel schon sein ganzes Leben lang. Sie waren Jagdkameraden. Und seine eigenen Kameraden sollten nun versucht haben, Hannes zu ermorden? Unvorstellbar. Andererseits, wenn sie wirklich hinter dieser Story steckten, war ihnen alles zuzutrauen. Wer schon soweit gegangen ist, schreckt vor nichts mehr zurück, erfasste Anne. Mord, Entführung, Erpressung. Warum dann nicht auch noch ein zweiter Mord? Auch wenn es sich dabei um den Mord an einem Freund handelt. Einem Freund, der im Weg ist und ihnen vielleicht auf die Schliche kommen könnte.
Anne gab sich einen Ruck und
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