Das Kreuz des Zitronenkraemers
stieg aus dem Wagen. Auf dem Fußweg nach Hause musste sie an ihre aufgebrochene Wohnungstür in jener Nacht denken. Sie verspürte auf einmal Angst, nach Hause zu gehen. Den Einbruch hatte sie regelrecht verdrängt. Ausgerechnet jetzt, wo Hannes im Krankenhaus lag, hatte sie Michael diese dämliche Falle gestellt. Was, wenn er wirklich heute Nacht käme, wenn sie allein war. Oder er war schon da. Schließlich hatte er ja auch beim letzten Mal beobachtet, wann sie das Haus verlassen hatte. Dieser Gedanke ließ Anne schneller gehen. Die Haustür war nur angelehnt. Anne stürzte die Treppen rauf. Hätte sie doch nur Paula im Reitstall abgeholt! Dann hätte sie wenigstens einen Wachhund an ihrer Seite! Gott sei Dank. Anne atmete erst mal tief durch. Die Wohnungstür war fest verschlossen und unversehrt. Langsam drehte Anne den Schlüssel im Schloss. Alles war ruhig, nichts war geschehen.
Anne ließ sich erleichtert auf ihr Sofa sinken. Der Kamin sah toll aus. Erst jetzt konnte sie die neue Verkleidung des Ofens so richtig bewundern. Herr Schmitz und Tom hatten alles sorgfältig aufgeräumt und sauber hinterlassen. Es gab also doch noch Menschen, auf die man sich verlassen konnte. Sie hatte wegen der Aufregung um Hannes komplett vergessen, ein Trinkgeld für die beiden da zu lassen.
Plötzlich fiel ihr der Umschlag ins Auge. Ein einfacher, weißer Umschlag. Er lag mitten auf dem Couchtisch. Auf die Vorderseite hatte jemand etwas geschrieben. Anne hob das Kuvert auf und las: „Dies hat ein junger Mann für Sie abgegeben. Gruß, P. Schmitz.“
Ein junger Mann war also während ihrer Abwesenheit an ihrer Tür gewesen. Mit zitternden Händen nestelte Anne den Umschlag auf. Darin war ein weißes, gefaltetes Papier. Darauf war eine Telefonnummer notiert, die Anne unbekannt war. Verwirrt faltete sie das Papier auseinander. Zu sehen war ein Foto. Ein sehr schlechtes Foto. Anne vermutete, dass es von einem billigen Handy und einem ebenso billigen Drucker fabriziert worden war. Sie erkannte dennoch ihr Haus. Davor den Kleinlaster. Den der Firma Schmitz. Den Mann konnte sie nicht erkennen. Wie sie das Blatt auch drehte und wendete, das Bild blieb so unscharf, wie es nun mal war. Das einzige, das Anne sehen konnte, war, dass der Mann irgendwas auf der Ladefläche des Lasters kramte. Er war im Profil fotografiert. Noch nicht mal die Farbe der Baseballmütze war zu identifizieren. Baseballmütze. Anne wurde an ihr Gespräch mit dem Apotheker erinnert, als er ihr den mysteriösen Rosenlieferanten beschrieben hatte. Anne aktivierte ihre Gedächtniszellen: Mittelalt, Sonnenbrille, Baseballmütze. Anne verkniff die Augen und sog das Bild fast in sich hinein. Mit viel Fantasie konnte sie eine Brille ausmachen. Sonnenbrille? Nicht zu erkennen. Mittelalt? Konnte vieles heißen. Von der Statur des ungewollt Fotografierten schloss Anne auf einen älteren Mann.
Vermutlich irgendein Penner, der im Sperrmüll suchte. Anne legte das Bild aus der Hand. Was sollte sie damit?
Sie hob den Zettel wieder auf und drehte ihn auf die Rückseite. Nein, die darauf notierte Nummer sagte ihr überhaupt nichts. Sollte sie wirklich dort anrufen? Was, wenn sie jetzt auch noch erpresst werden sollte? Aber von wem und wozu? Wegen der Carovedokumente. Sonnenklar. So langsam konnte sie einen Hauch der Angst spüren, die Claire zu ertragen hatte. Aber womit sollte sie jemand erpressen wollen? Hannes war sicher im Krankenhaus untergebracht. Er war nicht in der Gewalt irgendeines Verbrechers. Was redest du denn da für einen Unsinn, rief Anne laut in ihre leere Wohnung und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Warum war denn Hannes im Krankenhaus? Er war zusammengeschlagen worden. Aber vielleicht sollte er ja auch entführt werden! Und irgendwas war schief gegangen. Anne sprang vom Sofa und lief auf und ab. Mein Gott, ich Idiot. Ich bin an allem schuld, Hannes sollte wegen meiner dämlichen Papiere entführt werden. Aber er hatte doch vorhin noch erzählt, dass er Gritzfeld und Krischel gesehen hatte … Anne wusste überhaupt nichts mehr. Zuerst musste sie sich beruhigen. Sie ging in die Küche und nahm sich eine Apfelschorle aus dem Kühlschrank. Auf dem Weg in Richtung Wohnzimmer nahm sie noch das Telefon aus der Station. Dabei bemerkte sie, dass sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hatte. Ängstlich starrte Anne auf das rote, blinkende Lämpchen. Das ist er bestimmt. Das war bestimmt der Erpresser. Anne traute sich nicht, den Knopf zu
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