Das kurze Glueck der Gegenwart
im Zentrum der aktuellen Marktturbulenzen stehen. (…) Juristen warnen allerdings, dass der Nachweis von Betrug die Ermittler vor große Herausforderungen stellen könnte. Es gehe um Wertpapiere, die selbst für erfahrene Investoren fast nicht zu verstehen seien. Ein weiteres Problem sei, dass es kein offensichtliches Verbrechen gebe.«
Das zweite Zitat stammt aus einem deutschen Gegenwartsroman: »Was Asgers Leben bisher ausgefüllt hatte, rückte immer weiter in den Hintergrund. Über Politik hielt er sich nicht mehr auf dem Laufenden. Kulturelle Großereignisse nahm er nicht länger wahr. Asger trat ein in eine andere Form von Gegenwärtigkeit. Er wurde sich erstmals darüber klar, als er anfing, seine sonderbaren Naturerfahrungen aufzuschreiben. In seinem Fall war der Neubeginn vor allem ein sprachlicher Akt, das Tasten nach angemessenem Ausdruck, nach Worten, die sich seinen ungewohnten Erlebnissen anzunähern versuchten. Er entdeckte gewissermaßen das grammatische Präsens für sich. Es strahlte aus ins Perfekt, ins Futur hinüber, wenn Asger etwa schrieb: ›Die Reisenden der Vergangenheit und ich benutzen dieselben Pfade. Wir gehen sie auch nächstes Jahr.‹«
Asger ist der Protagonist des dritten Romans von Norbert Niemann »Willkommen neue Träume« (2008). Asger ist ein junger, erfolgreicher Fernsehjournalist, der gerade – als vorläufiger Höhepunkt seiner Karriere – eine eigene Kultursendung übernehmen soll, aber plötzlich die Großstadt und die Medienwelt hinter sich lässt und zurück zu seiner einsam lebenden Mutter in die bayrische Provinz zieht. Fuchsenhub, so heißt das edle Anwesen mit Alpenblick am See. Auf Fuchsenhub also verbringt Asger seine Zeit nun mit Zeitlosigkeit. Er wandert und er schreibt, wie ein später Abkömmling der Romantiker. Nebenbei bemerkt: Die Mutter ist eine frühere Kinoberühmtheit, Geld spielt also hier in dieser Form von Gegenwärtigkeit keine Rolle.
Niemann hat sich vorgenommen, einen Roman über unsere Zeit zu schreiben. Er will die Gegenwart erfassen und verwendet dazu paradoxerweise einen Aussteiger, einen Renegaten, einen vom Saulus zum Paulus gewordenen ehemaligen Insider, der nun, plötzlich sehend geworden, überall nur Hohlheit, Eitelkeit, Oberflächlichkeit entdeckt.
Die bittere Ironie Niemanns besteht darin, dass die Gegenwart sich auch in der Provinz ihr Recht verschafft, über lokalpolitische Ränkespiele, ökonomische Abhängigkeiten und die Gefräßigkeit der Medienmeute werden im Mikrokosmos die treibenden Kräfte wirksam, denen sich sein Held eigentlich doch entziehen wollte.
»Willkommen neue Träume« ist also ein sarkastischer Titel, denn das Neue bricht sich nur Bahn als Zerstörung von Kultur, von Kommunikation, eben gerade von jeder Fähigkeit, über das Bestehende hinauszudenken, Alternativen, gar Utopien zu entwickeln. »Die Reisenden der Vergangenheit und ich benutzen dieselben Pfade«, schreibt Asger. Es sind die Pfade Stifters, des »Nachsommers«, mit dem Unterschied, dass nicht einmal im Rosenhaus der sinnlos beschleunigten Welt Paroli geboten werden kann.
Niemann beweist, dass man auch einen Roman über die Gegenwart schreiben kann, wenn man sich nur voll und ganz auf einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit einlässt. Denn die Kräfte des Fortschritts, der »schöpferischen Zerstörung« entfalten überall, auch im bayrischen Erholungsort, ihre Wirkung. Und die politischen und ökonomischen Verflechtungen reichen sowieso in jeden Winkel. So deckt der Roman sehr genau und kenntnisreich die Funktionsweise der Lokalpolitik auf, das Geflecht aus persönlichen Beziehungen, wirtschaftlichen Interessen, politischen Kräfteverhältnissen und medialer Manipulation.
Niemanns Roman führt so ein Paradox vor. Man entkommt der Gegenwart nie wirklich. Kann Literatur also ihrer jeweiligen Zeit überhaupt entfliehen? Kann Gegenwartsliteratur der Gegenwart den Rücken kehren? Die Gegenwärtigkeit des Schriftstellers, so wie ich sie verstehe, ist eine besondere Form von Geistesgegenwärtigkeit, eine geschärfte Aufmerksamkeit der Sinne und des Kunstsinns für die prägenden Tendenzen der Zeit, für Wirklichkeitsbereiche und Systeme, die unser Leben und das Schicksal der Welt insgesamt bestimmen. Das klingt relativ einfach, ist aber doppelt schwer: intellektuell und künstlerisch. Wer die Gegenwart darstellen will, muss sie erst einmal durchschaut haben – eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung des Schreibens.
Auf dem
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