Das kurze Glueck der Gegenwart
also überall identisch? In ihren Konsequenzen schon. Das Besondere aber ist im Fall von »Als wir träumten«, dass hier sozialer Status und die Prägung einer ganzen (ostdeutschen) Generation zusammenkommen. Der Arbeiter aus Bottrop kann sich bestimmt leicht mit den Figuren identifizieren und sich in dem Setting wiedererkennen. uch er kann ein dramatisches Ende seiner Jugend erlebt haben. Doch fiel bei ihm das Erwachsenwerden nicht in das Vakuum einer gesellschaftlichen Ordnung. Oder vielleicht doch? Vielleicht haben tatsächlich die Kinder, die in den siebziger Jahren im Ruhrgebiet aufwuchsen, eine ähnliche Erfahrung mit dem wirtschaftlichen »Strukturwandel« gemacht, der nichts anderes bezeichnet als das Ende einer Sozial- und Wirtschaftsordnung rund um den Dreiklang von Kohle, Erz und Stahl. Vielleicht haben die Kumpel die Erfahrungen vieler Ostdeutscher vorweggenommen. Vielleicht gab es nicht nur die »Zonen-«, sondern auch die »Revierkinder«.
Der Schriftsteller Ralf Rothmann, der in der Umgebung von Oberhausen im Ruhrgebiet aufwuchs, wäre vor allem mit seinem Frühwerk der Chronist dieser Welt. Tatsächlich haben die Jugendgangs in Romanen wie »Stier« (1991), »Wäldernacht« (1994) und »Milch und Kohle« (2000) viel gemeinsam mit den Jungs in Meyers »Als wir träumten«. Die Perspektive ist die Rückschau eines, der den Ausweg und die Flucht aus den beengenden Verhältnissen geschafft hat. Rothmanns Romane sind somit auch Bildungsromane. Zwar fällt auf die einfachen Verhältnisse auch ein nostalgischer Blick, doch geht es eher darum, die Bedeutung von Kultur und Kunst, einer inneren, geistigen Distanz zu der Welt aus Party, Drogen und Gewalt zu finden. Gleichzeitig wird die Welt der Zechen und Hochöfen mythisch überhöht. Die »Wäldernacht« etwa ist die kindliche Vorstellung der Kohleflöze, in denen nicht nur die eigene Vergangenheit, sondern die der ganzen Erde aufbewahrt ist – die Stein gewordenen Wälder der Urzeit. Wie die Bergleute, so fördert der Schriftsteller die Vergangenheit ans Licht. Mit den Mitteln des Erzählens vollführt er eine ähnliche Arbeit wie die Bergleute. Vom Stollen zum Buch – Ralf Rothmann ist so etwas wie sein eigener Strukturwandel. Wo einst Kohle war, soll nun Schrift werden. In »Wäldernacht« ist es der Maler Jan Marrée, der nach Jahren in Berlin in seinen Heimatort zwischen Oberhausen und Bottrop zurückkehrt und dort auf die alten Mitglieder seiner »Bande« trifft: »Hab ich das vorhin richtig verstanden, Marrée? Du bist Maler und kriegst ein Stilleben oder wie das heißt? – Stipendium, sagte ich. – Aha.«
Es ist interessant, dass die deutsche Gegenwartsliteratur vor der Popwelle punktuell schon einmal diesen sehr realitäts- und alltagsgesättigten Ton hatte, dass soziale Wirklichkeit auch jenseits des akademischen, bürgerlichen Milieus in wichtigen Büchern vertreten war. Aus ganz anderer Richtung konnte man das auch bei Hauptvertretern der DDR -Literatur finden, allen voran bei Wolfgang Hilbig, der mit einem kraftvollen Neoexpressionismus der Welt der Arbeit (und auch dem Elend des Suffs) in seinen Büchern Raum gab. Merkwürdigerweise trat das für ein paar Jahre in den Hintergrund. Rothmann wandte sich anderen, Berliner Stoffen zu und der Ruhrpott war vor allem noch in komödiantischer Form Gegenstand der Literatur, etwa in den Unterhaltungsromanen eines Frank Goosen, der inzwischen tatsächlich zu einer Art Lokaldichter des Potts geworden ist.
Zum Arbeitsplatz der deutschen Romane aber waren der Loft oder die Manageretage geworden. Dass es wirkliche Arbeiter, ja, wichtiger noch, wirklich Arbeitslose gab, hatten die mit Stipendien und Förderpreisen ausgestatteten Autoren für ein paar Jahre vergessen. Erst im vergangenen Jahr machte sich ausgerechnet der Adelige Moritz von Uslar ans andere Ende des sozialen Spektrums auf, um die Unterschicht zu erforschen.
In »Deutschboden« unternimmt Uslar ein ungewöhnliches journalistisches Experiment. Er verbringt drei Monate in einer brandenburgischen Kleinstadt: »Ich will dahin, wo die Leute in strahlend weißen Trainingsanzügen an Tankstellen rumstehen und ab und zu einen Spuckefaden zu Boden fallen lassen!« Doch dieser Ausflug nach »Lehmkuhlenhüttenbetonkopfsteinhausen« und »Zappendüsterow« erweist sich literarisch als ungewöhnlich produktiv. Teilnehmende Beobachtung nennt Uslar seinen Bericht, und das ist nicht übertrieben.
Tatsächlich begegnet er den Einwohnern seines
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