Das kurze Glueck der Gegenwart
Schriftsteller sind genauso häufig Väter und Mütter wie andere Freiberufler auch. Woher aber kommt dann der unabweisbare Eindruck eines Nachwuchsproblems? Wieso hinkt die Literatur gerade hier der Wirklichkeit hinterher?
1998 erschien Judith Hermanns Erzählungsband »Sommerhaus, später«, neben Benjamin von Stuckrad-Barres »Soloalbum« aus demselben Jahr und Christian Krachts »Faserland« das exemplarische Buch für die Jugendbewegung der Literatur. Der Erfolg gerade dieser drei Bücher erklärte sich auch aus dem enormen Identifikationspotential, das ihre traurigen, einsamen, illusionslosen, bindungsängstlichen Figuren hatten: Liebe war gestern, Familie mindestens vorgestern. Jung-sein in der Literatur war gleichbedeutend mit Ungebundenheit, aber bald auch mit der Unfähigkeit, von etwas anderem zu erzählen als den eigenen Ablösungsprozessen, der auf Dauer gestellten Adoleszenz. Wer Familie hat, ist raus aus dem Spiel.
Eines der besten Stücke aus »Sommerhaus, später« ist die »Bali-Frau«, die Geschichte einer Clique von Freunden, zwei Frauen und einem Mann, die eine rauschhafte Premierenfeier erleben. Christiane, die Freundin der Erzählerin, hat sich vorgenommen, sich den Regisseur zu schnappen: »Er war groß und dick und verkommen, er rauchte eine Zigarre und trank Whiskey, er hatte diesen verlotterten Altmännersex, dem Christiane sich nie entziehen konnte, und er war berühmt.« Was hier heute Abend ablaufen soll, folgt einem festgelegten Drehbuch, einem festen Beuteschema der Vielmännerei: »Ich sah den Regisseur an, ich dachte an die zahllosen Regisseure und Dramatiker und Schauspieler und Bühnenbildner, die an Christianes und meinem Küchentisch gesessen, unter unserer Dusche gestanden, in unseren Betten gelegen hatten, ich dachte an ihre Stimmen auf unserem Anrufbeantworter, an ihre nächtlichen Schläge gegen unsere Tür, an die zerschmissenen Gläser und ungelesenen Briefe; ich dachte, dass immer irgendetwas nicht genug war, auch diesmal würde irgendetwas nicht genug sein.«
Doch der Abend läuft aus dem Ruder. Der Regisseur hat eine Frau aus Bali, die plötzlich auftaucht und mit ihrer Aura die Freunde in den Bann schlägt. Am Ende landen alle in der Wohnung des Regisseurs, wo die »Bali-Frau« Tee kocht und Blondinenwitze erzählt. Sie lebt hier mit dem Regisseur, mit dem sie offenbar mehrere Kinder hat. »Wir drehten uns an der Küchentür noch einmal um, da stand sie neben der Bank in ihrem roten Kleid und sah uns an, ernst und gerade, sie sagte nichts mehr, und da gingen wir.« Im Kontrast zu dieser charismatischen Gestalt empfindet die Erzählerin ihre vermeintliche Freiheit als Oberflächlichkeit, als ein uneigentliches Leben. Die ganze Erzählung ist in Du-Form geschrieben, gerichtet an einen unbekannten Adressaten: »Sind wir uns einmal – ist das nicht genug – begegnet?« Natürlich ist das nicht genug. Das wirklich Große an Judith Hermanns Erzählungen ist, dass sie die Defizite der so hautnah herangezoomten Lebensformen freilegen. Was an ihnen Identifikationspotential ist, distanziert zugleich. Wenn das der Sound einer neuen Generation ist, wie die euphorische Kritik meinte, dann der einer Generation, die gern anders wäre, die eigentlich die Bindungen und Verpflichtungen und Verantwortungen ihrer Eltern ersehnt, dazu aber nicht in der Lage ist.
Das hier beschriebene neoexistentialistische Lebensgefühl, das Autonomie und die Freiheit zum ständigen Neu-Anfang zu höchsten Werten erklärt, dessen Kehrseite aber ein Leiden an der eigenen Unentschiedenheit ist, war typisch für die späten Neunziger. Es schlug sich auch in der niedrigen Geburtenrate unter Akademikern nieder, die ja theoretisch gern feste Beziehungen und Kinder gehabt hätten, nur in der Praxis vor der damit verbundenen Festlegung zurückschreckten. Vielleicht kein Zufall, dass gleichzeitig die Short Story durch Judith Hermann in der Gegenwartsliteratur für kurze Zeit wieder populär gemacht wurde. Deren Ausschnitthaftigkeit entspricht dem Episodischen und Kurzfristigen im Privaten. Das radikale Leben im Jetzt bedeutet auch Vergangenheits- und Kontextlosigkeit.
Zwei weitere Beispiele von jungen, durchaus begabten Erzählern: »Die blinde Fotografin« heißt ein 2007 erschienener Band von Paul Brodowsky, der sechs Kurzgeschichten enthält, in denen wie mit einer hektischen Handkamera nomadenhaftes Großstadtleben eingefangen wird. In einem rasanten, atemlosen, parataktischen Prosastrom begegnen sich
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