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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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hier Menschen zufällig, in der Bahn oder im Café, stürzen aufeinander ein, ohne sich kennenzulernen, verlieren sich wieder. In der Titelgeschichte protokolliert der Erzähler unbeteiligt den Selbstmord seiner Lebensgefährtin: Die kranke, nach und nach ihr Augenlicht verlierende Fotografin inszeniert ihren Tod als Teil eines Konzeptkunstwerks. »Manhattan: no time for consciousness« lautet das Motto der Erzählung; das Fehlen einer reflexiven Ebene ist Programm. Ein nur der sinnlichen Gegenwart verpflichteter Kamerablick kann Geschichte, Vergangenheit, Rückschau nicht erfassen, sondern allenfalls, wie in der letzten Story »Rachel«, einfach den Film umgekehrt zeigen und eine Liebesaffäre rückwärts, von ihrem Ende her, erzählen. Eine Biographie haben alle diese Menschen nicht. Das macht Brodowskys Buch aber gerade nicht zu einer Abschrift modernen Lebens, sondern entrückt es in eine weltfremde Künstlichkeit. Gezeigt wird hier nicht die Realität, sondern der Traum eines absolut bindungslosen Lebens.
    Die einzige wirklich bindende Verwandtschaft unterhält hier der Autor: Wie eine große, stets unerreichte Schwester steht das Vorbild Judith Hermann hinter diesem Sound und diesem Blick. Die literarische Erbschaft ist an die Stelle realer Vorfahren getreten. Die beste Geschichte erzählt von einer nächtlichen, fiebrigen Jagd nach einer sich quecksilbrig entziehenden Frau: »Judith« ist sie überschrieben.
    Am Hermann-Ton geschult ist auch Franziska Gerstenberg, die gleichwohl bereits in ihrem zweiten Erzählungsband »Solche Geschenke« (2007) einen eigenen Ton gefunden hat. Da bildet etwa die Wohngemeinschaft als Ersatzfamilie den Rahmen für Geschichten »in alter Manier«, wie sie Ingo Schulze nennen würde, jene aus alltäglichen Beiläufigkeiten und subtilen Leitmotiven sich entwickelnden Konstellationen, in denen plötzlich sichtbar wird, an welchen seidenen Fäden oder starken Tauen das Leben hängt.
    Schon von den ersten Sätzen der ersten Geschichte an ist ein zentrales Thema angeschlagen – die Frage, wo und warum man sich verbunden, verpflichtet, angehörig fühlt: »Sie benutzten Rafaels Butterdose, weißes Porzellan, ein Erbstück. Kora dachte: Wieso eigentlich, seine Eltern sind doch gar nicht tot.« Und als in »Die Frage ist« der immer freundliche und nachgiebige Mitbewohner im Koma liegt, weil er seinem einzigen Freund gegen Schläger zu Hilfe kam, treten äußeres und inneres Verhältnis auf absurde Weise auseinander: »Sie lassen mich nicht zu ihm, ich bin keine nahe Verwandte, wir sind überhaupt nicht verwandt.«
    So demonstriert Franziska Gerstenberg, dass die verabsolutierte Freiheit und Ungebundenheit in eine Sackgasse führen, weil die familiären und familienähnlichen Bindungen in existentiellen Ausnahmesituationen doch unverzichtbar sind. So belastend die Familie ist, ist sie doch eine Realität, die sich nicht einfach auflöst, wenn man sie ignoriert. In »Fütterst du zwei?« beschreibt die Erzählerin erst in aller Ausführlichkeit das quälende Ritual einer Feier mit der buckligen Verwandtschaft, mit Kindervideos und schlechtem Buffet, um dann, nach gelungener Flucht, mit ihrem daheimgebliebenen Freund ein Kind zu zeugen. Auch die junge Literatur entkommt der Familie – nur in einer anderen Familie.
    Die Familie holt einen so oder so ein. Dass viele Autoren von dieser Trivialität erst einmal kalt erwischt werden, liegt natürlich auch an ihrem Alter. Gleichzeitig gibt es – gerade bei jüngeren Autoren – eine Vorliebe für den Familienroman oder die Generationengeschichte, bis hin zu einer Art von literarischer Ahnenforschung. Arno Geigers Österreich-Chronik »Es geht mir gut« (2005) ist ein Paradebeispiel dafür, auch die sehr erfolgreichen Familienromane John von Düffels wie »Vom Wasser« (1998) oder »Houwelandt« (2004). Mit den abgegriffenen Mustern einer Chronik mehrerer Generationen wird hier das Leserbedürfnis nach Stammbaumepik befriedigt. An Vorfahren mangelt es der Literatur jedenfalls nicht. Wo man hinschaut, Mütter, Väter, Onkel, Tanten, Omas und Opas. Manchmal wirkt gerade die junge deutsche Literatur wie eines jener schrecklichen Verwandtentreffen meiner Kindheit: Die alten Männer erzählen vom Krieg, die alten Frauen von ihren Krankheiten und Kurschatten, der Roman als Veteranentreffen und Altenpflegeheim.
    Doch das entscheidende Merkmal der meisten dieser klassischen Familiengeschichten ist, dass sie stets aus der Perspektive der jüngsten

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