Das Labyrinth der Wörter
passiert es mir selten, außer an dem Tag, wo ich mir den Fuß zerquetscht habe, als Landremont und ich den Umzug für seine Schwester gemacht haben und er ihre Kommode einfach losgelassen hat, weil seine Hände angeblich feucht waren. Da hätte jeder geheult: Das tut sauweh. Auch wenn es hier nur eine Anekdote ist. Aber ich rede von echten Tränen. So wie damals, als ich Landesmeister im Orientierungslauf geworden bin, knapp vor Cyril Gontier, einem absoluten Blödmann, der mir die ganze Grundschulzeit zur Hölle gemacht hat, was ich echt nicht hätte haben müssen. Oder wie in der Nacht, wo ich mich in Annette verliebt habe, was sehr erstaunlich war, weil wir schon seit über drei Monaten miteinander ins Bett gingen. Aber an dem Abend war es so schön, mit ihr zusammen zu kommen, dass ich weinen musste.
Das alles nur, um Ihnen zu erklären, dass mir Weinen verdammt peinlich ist – ich weiß nicht, wie es Ihnen da geht. Ich bin näher am Wasser gebaut als ein zweijähriger Knirps, mir laufen die Augen über wie ein Springbrunnen, ich heule wie ein Schlosshund. Man könnte meinen, bei mir ist alles so übergroß wie meine Statur. Das ist zwar ein Glück für die Frauenwelt, aber es gilt genauso für den Kummer, und das ist Pech für mich.
Die kleine Alte hat mich also ganz ohne Absicht fast zu Tränen gerührt. Ich weiß nicht, warum, vielleicht war es ihre freundliche Art zu fragen: »Sie geben Ihnen also Namen?« Oder weil sie selbst ganz gerührt wirkte. Vielleicht aber auch, weil wir am Abend vorher den vierzigsten Geburtstag von Jojo Zekouc ein bisschen zu ausgiebig begossen hatten und ich nicht mal vier Stunden geschlafen hatte. Aber mit den Vielleichts , das sagte ich Ihnen ja schon, ist das so eine Sache.
Jedenfalls habe ich ihr geantwortet: »Ja, ich habe ihnen allen Namen gegeben. Dann kann man sie besser zählen.«
Sie hat die Augenbrauen hochgezogen. »Na so etwas! Verzeihen Sie, wenn ich indiskret bin, aber ich muss zugeben, dass Sie mich neugierig machen: Wie schaffen Sie es, sie auseinanderzuhalten?«
»Ach … Das ist wie mit Kindern, verstehen Sie … Haben Sie Kinder?«
»Nein. Und Sie?«
»Auch nicht.«
Sie hat genickt und dabei gelächelt. »Dann ist das ein sehr stichhaltiges Beispiel.«
Mir war nicht ganz klar, was das heißen sollte, aber sie schien es genauer wissen zu wollen, also habe ich weitergeredet: »Na ja, sie sind alle verschieden … Wenn man nicht aufpasst, fällt es einem nicht auf, aber wenn man sie genau beobachtet, sieht man, dass es keine zwei Gleichen gibt. Jede hat ihren Charakter und sogar ihre bestimmte Art zu fliegen. Deshalb sage ich: Das ist wie bei den Kleinen. Wenn Sie Kinder hätten, würden Sie sie bestimmt auch nicht verwechseln …«
Sie hat ein bisschen gelacht. »Oh, wenn ich neunzehn hätte, bin ich mir nicht so sicher!«
Da musste ich auch lachen.
Mit Frauen lache ich nicht so oft. Jedenfalls ganz sicher nicht mit den alten.
Es war seltsam, ich hatte das Gefühl, dass wir Freunde waren. Ich meine, nicht wirklich, aber so was in der Art.
Inzwischen habe ich das Wort gefunden, das mir fehlte: Vertraute .
W örter sind wie Schachteln, in die man seine Gedanken einsortiert, um sie den anderen besser präsentieren und verkaufen zu können. Zum Beispiel gibt es Tage, wo man am liebsten auf alles und jeden einschlagen würde und dann doch nur einen Flunsch zieht. Dadurch könnten die anderen aber glauben, dass man krank oder unglücklich ist. Wenn man stattdessen mit Worten sagt: »Geht mir bloß nicht auf den Sack, heute ist nicht mein Tag!«, dann vermeidet man solche Missverständnisse.
Oder – anderes Beispiel – ein Mädchen verdreht einem den Kopf, und man denkt den lieben langen Tag, den der Herr einem geschenkt hat, an nichts anderes, als wäre einem das Hirn in den Schwanz gerutscht. Wenn man ihr dann sagt: »Ich bin total in dich verliebt« und so weiter, dann kann einem das ein bisschen helfen, der Sache näherzukommen.
Wobei eigentlich nicht die Verpackung zählen sollte, sondern das, was man reinsteckt.
Es gibt wunderschöne Päckchen, wo nichts als Dreck drin ist, und andere, die ungeschickt verschnürt sind, aber wahre Schätze enthalten. Deshalb traue ich den Wörtern nicht, verstehen Sie?
Wenn ich es mir richtig überlege, war es sicher besser für mich, nicht zu viele davon zu kennen. Ich brauchte nicht zu wählen: Ich sagte nur, was ich sagen konnte. So konnte ichmich auch nicht so leicht vertun. Und vor allem musste
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