Das Labyrinth der Wörter
»Reden Sie mit mir?«
»Ich sagte, es sind neunzehn. Die Kleine da, mit der schwarzen Feder an der Flügelspitze, sehen Sie die? Das ist eine Neue, stellen Sie sich vor. Sie ist erst seit Samstag da.«
Das fand ich ziemlich stark: Ich war auf die gleiche Zahl gekommen wie sie.
»Sie zählen die Tauben also auch?«
Sie hat die Hand an ihr Ohr gehalten und gefragt: »Wie meinen?«
Ich habe gebrüllt: »Sie-zäh-len-die-Tau-ben-al-so-auch?«
»Natürlich zähle ich sie, junger Mann. Aber Sie brauchen nicht so zu schreien, wissen Sie? Es genügt, wenn Sie langsam mit mir reden und deutlich artikulieren … nun ja, aber doch laut genug, wenn es Ihnen nichts ausmacht!«
Ich musste lachen, weil sie mich »junger Mann« nannte. Obwohl es eigentlich gar nicht so daneben war, wenn ich es mir richtig überlege. Man kann mich jung oder alt finden, je nachdem. Es hängt alles davon ab, wer spricht. Logisch:Alles ist relativ – nur durch seine Beziehung auf etwas bestimmt .
Für einen so alten Menschen war ich jung, das ist jedenfalls klar, von der Relativität mal abgesehen.
Als ich mich neben sie gesetzt habe, ist mir aufgefallen, dass sie wirklich eine ganz kleine Oma war. Man benutzt manchmal Ausdrücke wie »Winzling« oder »Zwerg«, ohne darüber nachzudenken. Aber in ihrem Fall war das nicht übertrieben: Ihre Füße reichten nicht mal bis auf den Boden. Während ich meine langen Knochen immer weit vor mir ausstrecken muss.
Ich habe sie höflich gefragt: »Kommen Sie oft hierher?«
Sie hat gelächelt. »Fast jeden Tag, den der liebe Gott werden lässt.«
»Sind Sie Nonne?«
Sie hat erstaunt den Kopf geschüttelt: »Ordensschwester, meinen Sie? Himmel, nein! Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich weiß nicht. Sie haben vom lieben Gott geredet, deshalb … Ist mir nur so eingefallen.«
Ich bin mir ein bisschen dumm vorgekommen. Aber Nonne ist ja kein Schimpfwort. Jedenfalls nicht für jemanden, der so alt ist, meine ich. Aber sie sah auch nicht beleidigt aus. Da habe ich gesagt: »Komisch, ich habe Sie hier noch nie gesehen.«
»Gewöhnlich komme ich etwas früher. Aber, wenn ich mir erlauben darf, ich habe Sie meinerseits schon ein paar Mal bemerkt.«
»Ach!« Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.
»Sie haben die Tauben also gern?«
»Ja. Vor allem zähle ich sie gern.«
»Ja, ja … Das ist eine fesselnde Beschäftigung. Man muss unablässig wieder von vorn beginnen.«
Sie redete kompliziert, umständlich und irgendwie verschroben, so wie feine Leute. Aber die Alten sind ja sowieso viel höflicher und drücken sich viel geschliffener aus als die Jungen.
Ulkig: Während ich das sage, denke ich an Bachkiesel, die auch ganz geschliffen sind, und zwar genau deshalb, weil sie alt sind. Manchmal meinen die gleichen Wörter verschiedene Sachen, die aber doch irgendwie gleich sind, wenn man lange genug darüber nachdenkt.
Sie verstehen schon, was ich meine.
Um ihr zu zeigen, dass ich kein Volltrottel bin, habe ich gesagt: »Ich hatte sie auch bemerkt, die Kleine da mit ihrer schwarzen Feder. Deshalb habe ich sie auch Schwarze Feder genannt. Die anderen lassen sie beim Fressen nicht so ran, haben Sie gesehen?«
»Das stimmt. Sie geben Ihnen also Namen?«
Sie schien interessiert.
Ob Sie es glauben oder nicht, in dem Moment habe ich entdeckt, was es für ein Gefühl ist, wenn sich jemand für einen interessiert. Falls Sie es nicht wissen, kann ich Ihnen sagen: Es ist ganz schön komisch. Klar, manchmal, wenn ich etwas erzähle, sagen die anderen: »Nee, ist nicht wahr!? Kein Quatsch? Was für eine Geschichte, Donnerwetter!« Aber da erzähle ich keine wirklich persönlichen Sachen. Sondern zum Beispiel von einem Auto, das in der Nacht aus der großen Kurve am Hang geflogen ist, ein Toter und drei Verletzte (ich wohne gegenüber, fast immer bin ich es, der die Feuerwehr ruft, einmal musste ich ihnen sogar helfen, einen Mann in all seinen Einzelteilen in einen Sack zu stecken, und das ist ein ziemlicher Scheißjob, glauben Sie mir). Oder ich erzähle meinen Kumpels, dass die Männer von der Fabrik gedroht haben, die Autobahnausfahrt zu blockieren – das weiß ich, weil Annette da im Lager arbeitet –, na ja, solche Sachen eben. Die Ereignisse des Tages. Aber dass sichjemand für das interessiert, was ich so mache? Mannomann! Das hat mir echt die Kehle zugeschnürt. Ich hätte fast losgeheult wie ein kleines Kind, und wenn es irgendetwas gibt, das mir unangenehm ist, dann das. Zum Glück
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