Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
Beine neu kennenlernen und mich auf all das besinnen, was nötig ist, um in einer unwirtlichen Gegend allein und ohne Obdach zu überleben.
Kurz vor Mitternacht brachte mich das Beiboot zu einer kleinen Bucht etwa auf halber Strecke zwischen den zur Republik Ragusa gehörenden Orten Trsteno und Orasac. Die Santa Barbara lag mit einem Treibanker nahe der bewaldeten Nordwestspitze der Insel Lopud.
»Habt Ihr alles, was Ihr braucht?« sagte der Offizier, der mich zum Strand begleitet hatte.
»Ja – bis auf Glück, das nach und nach dazukommen sollte.«
Er berührte meine Schulter mit der Fingerspitze. »Dann wünsche ich Euch mehrere Frachterladungen davon.«
»Nicht gar so viel; ich will ja nicht darin ertrinken.«
Es war eine feuchtkalte Nacht, bewölkt und ohne Mond; nicht ungewöhnlich für August, aber nach langem Wohnen in Städten und Häusern doch ein herber Beginn. Ein finsterer Anfang dazu, ohne Mond und Sterne; ich blieb zunächst einfach stehen, lauschte dem Schwappen der geringfügigen Brandung, hörte das Eintauchen der Ruder und wartete darauf, daß meine Augen sich ans Dunkel gewöhnten. Ein Dunkel, aus dem nicht einmal Waffen und Augäpfel hervorstachen.
Nach einiger Zeit begab ich mich vorsichtig, immer wieder mit den Füßen tastend, senkrecht weg vom Wasser. Dabei fühlte ich mich, als bestünde ich nur aus fast blinden Augen und meinem Gepäck. Ein lederner Reisehut mit Krempe, ein schwerer Mantel, der mir auch als Decke dienen mußte, der Beutel über der Schulter, darauf festgebunden der kleine Lederkasten mit der Fiedel. Ein Sattler in Venedig hatte ihn mir mit Riemen, Schnallen und einer Scheide versehen, damit ich ihn am Beutel befestigen konnte und bei langem Wandern den Degen nicht um die Beine baumeln lassen mußte. Am Gürtel ein Messer, den kleinen Beutel mit Münzen, ein wenig Wegzehrung sowie Feuerstein, Stahl und Zunder – eine Hand konnte ich ausstrecken, um Hindernisse zu erfühlen, die andere war nötig, um den Riemen des Beutels zu halten, damit er mir nicht von der Schulter glitt. Ich wußte, daß ich einige Zeit brauchen würde, mich wieder an diese Art des Lebens und Reisens zu gewöhnen. Und daß ich die Gewöhnung in ein paar Tagen schon wieder unterbrechen mußte. Oder durfte.
Eher tastend denn sehend fand ich eine sandige Mulde zwischen den Bäumen. Ich wollte kein Feuer machen. Nachbarn, von denen man nichts weiß, soll man nicht auf sich aufmerksam machen. Wer in Trsteno oder Orasac nicht schlafen konnte, würde wahrscheinlich das Feuer sehen. Ich trank Wasser aus der Lederflasche, legte die Waffen griffbereit und wickelte mich in den Mantel.
Aber ich konnte nicht schlafen. Die Erde unter mir war allzu ruhig; nach den Tagen an Bord der Santa Barbara vermißte ich das Schaukeln, die Geräusche des Wassers, die Musik von Wind, Tauen und Segeln, das Knirschen der Planken. Nachtvögel und ein gelegentliches Rauschen in den Baumwipfeln konnten all das nicht ersetzen. Ich weiß nicht, ob die unbewegte Erde und die ungewohnten Geräusche den Schlaf vertrieben; jedenfalls brachten sie Gedanken. Erinnerungen an hunderte ähnlicher Nächte in den Jahren des Reisens. Unnütze Erinnerung an Feuer, Gespräche, Gefechte. Schmerzliche Erinnerungen an den Abschied von den Kindern und an Lauras bittere Worte. Vielleicht hatte sie ja recht mit der Feststellung, ein Mann, der Frau und Kinder wegen einer Rache verlasse, sei auch nicht besser als einer, der zu einer anderen Frau gehe. Damals, vor Jahren, als ich die Rache nicht hatte aufgeben wollen, war sie frei gewesen; nun war sie durch Gelübde vor der fragwürdigen Welt und einem zweifelhaften Gott gebunden. An mich, den Vater der Kinder, den treulosen Gemahl, der Weib und Kinder verlassen hatte.
Die Nacht. Der Schlaf, der nicht kommen wollte. Die Gedanken, Gespenster, die aus der dichten Nacht sickerten. Ich wollte nicht an Laura denken und begann, eine Liste möglicher Nächte anzufertigen, ein Bauwerk aus abgestuften Dunkelheiten. Als ich bei Lauras Nächten angelangt war, versuchte ich, an Bellinis Nächte zu denken. Und an die von Kassem. Ich bildete mir ein, sein Gesicht im Dickicht der Nacht sehen zu können – das Gesicht des Mannes, der Zerstörer und Retter gewesen war, Mörder und Vater, vertrauter Verräter. Die Nachricht war aus Konstantinopel gekommen: Kassem werde bald zum Amselfeld reisen, ohne genaue Angaben. Vielleicht war er noch beim Sultan, oder unterwegs, oder bereits angekommen. Dies hoffte ich in Ragusa
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