Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
zu erfahren, wo man angeblich immer alles wußte, was die Osmanen taten. Weshalb Bellini mir noch zahlreiche weitere Fragen mitgegeben hatte, leere Gedankenhülsen, die ich füllen und nach Venedig bringen oder schicken sollte. Aber ich dachte nicht an diese Fragen, denn die Nacht war Kassems Gesicht, und ich bildete mir ein, seine Augen zu sehen. Als ich einen kräftigen Luftzug verspürte, begriff ich, daß ein Frühwind die Wolkenschicht zu zerreißen begann; die vermeintlichen Augen waren die ersten Sterne, die sich blicken ließen.
Morgens sammelte ich ein wenig Reisig und ein paar Kienäpfel, machte Feuer und füllte den kleinen Topf, der mir zum Waschen, Kochen und als Eßgeschirr diente, mit dem restlichen Wasser aus meiner Lederflasche. Als es zu sieden begann, streute ich ein paar mitgebrachte Kräuter hinein, nahm ihn vom Feuer und wartete, bis der Sud sich ein wenig abgekühlt hatte. Heißer Kräutersud und Brot, das der Koch der Santa Barbara am Vortag gebacken hatte – ein üppiges Morgenmahl. Der Wind hatte sich gelegt; der Himmel über dem Meer war klar, und so weit ich jenseits der Bäume die Küstenberge sehen konnte, waren auch sie deutlich und scharf umrissen. Als die Sonne endlich aufging, packte ich meine Sachen zusammen und suchte mir einen Weg landeinwärts, den waldigen Hang hinauf; irgendwo dort oben mußte die Straße sein.
Als ich sie erreichte, war ich vom Steigen außer Atem. Ungewaschen, dachte ich, demnächst wieder hungrig, ohne Vorräte und vom guten Leben in der Stadt geschwächt. Ich erinnerte mich an steilere Hänge, die ich mühelos und ohne Keuchen bewältigt hatte – damals, in einem anderen Leben. Ich sagte mir, daß ich in den nächsten Monaten viele Meilen gehen und vielleicht mein Leben mit der Waffe würde schützen müssen. Zweifellos konnte ich den Degen gut genug führen – aber reichte die Kraft aus, ihn lang genug zu halten?
Ein Spielmann muß nicht so oft kämpfen, sagte ich mir; es sei denn, er stellt zu viele Fragen.
Die Straße – ein breiter, nur hier und da befestigter Karrenweg – lief oberhalb des Hangs am Fuß der eigentlichen Küstenberge nach Nordwesten und Südosten. Ich blieb stehen, bis das Keuchen endete, und blickte hinaus aufs Meer und auf die Inseln. Offenbar hatten mich die spanischen Seeleute nachts weiter nordwestlich abgesetzt als vorgesehen; so, wie die Inseln dort lagen, befand ich mich nicht zwischen Trsteno und Orasac, sondern nordwestlich von Trsteno.
Nach etwa einer halben Stunde erreichte ich den kleinen Ort. Es war noch früh, zu früh für Musik. Für ein paar kleine Münzen kaufte ich frisches Brot und ein paar Früchte, füllte meine Flasche am Brunnen und hockte mich auf einen Baumstumpf, um ernsthaft zu frühstücken. Dann brach ich nach Südosten auf, dorthin, wo etwa zwanzig Meilen entfernt Ragusa lag, oder Dubrovnik, wie die Leute hier sagten. Der Bäcker und der andere Händler verfügten über ein paar italienische Brocken, aber wenn ich wirklich wissen sollte, was in der Gegend und in der Umgebung geschah, würde ich die hiesige Sprache lernen müssen.
Ich ließ mir mehr Zeit als nötig, verzichtete auf jeden Versuch, Unterschlupf in Scheunen oder Häusern zu finden, stieg immer wieder von der Straße auf den nächsten Berg oder steil hinab in eine der engen Buchten. Allmählich minderte sich das Keuchen bei solchen Gängen, und meine nach allzu langer Schonung zum Dienst gepreßten Muskeln begannen, die verlangte Arbeit widerstandslos zu leisten. Als ich die Stadt erreichte, hatte ich das Gefühl, wieder im Besitz meiner selbst zu sein.
Und ich hatte von Bauern, Händlern und Kindern die ersten kroatischen Brocken aufgepickt. Zu wenig fürs Überleben oder gar für Gespräche, aber genug, um an diese erstaunliche Stadt nicht mehr als »Ragusa«, sondern als »Dubrovnik« zu denken.
Da die Sonne bereits unterging, als ich die lange schlauchartige Bucht umrundet hatte und wieder an der eigentlichen Küste war, verbrachte ich die Nacht in Gruz. Gravosa – wie auch immer der italienische Name des Orts zustande gekommen sein mag – liegt nicht ganz zwei Meilen nordwestlich von Dubrovnik, und diese zwei Meilen wollte ich lieber bei Tageslicht am nächsten Morgen zurücklegen. Es war gerade noch hell genug, um in der von einer vorspringenden Halbinsel gebildeten Bucht die Fischerboote und an Land die Hütten und kleinen Werkstätten zu sehen. Es roch, wie es in solchen Orten immer riecht: Wasser, Salz, Fisch, Tang,
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