Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
und von keinem Nahrung kaufen konnte.
Ich war ein wenig ratlos, sagte mir aber, daß ich noch zu wenig in Erfahrung gebracht hatte. Warten. Friede, hat jemand einmal gesagt, ist Krieg ohne Waffen, und Krieg ist, wie ich allzu gut weiß, endloses Warten darauf, die Waffen einsetzen zu können. Einsetzen zu müssen. Nun wartete ich darauf, mehr zu erfahren. Genaueres. Und während ich wartete und meine Kroatischkenntnisse ergänzte, machte ich abends Musik mit den anderen, und tagsüber streifte ich oft durch die Umgebung, um die Gegend besser kennenzulernen.
Nicht nur die Gegend, auch ihre Bewohner. Nachmittags hatte ich in der östlichen Vorstadt, die zwischen den Mauern und dem Hang des hohen Sergius-Bergs liegt, mit einigen Leuten über alles und nichts geredet; danach ging ich weiter nach Süden, zur äußersten kleinen Vorstadt Ploče, wo ich am Strand ein paar Fischern zusah, die ihre Netze nickten und Wundergeschichten über den Einsiedler auf der etwa eine halbe Meile entfernten Insel Lokrum erzählten. Am Ende dieses friedlichen und milden Tages, als die Sonne eben über dem Meer gesunken war, wanderte ich den Weg zurück nach Nordosten, um die anderen in Valerios Schänke oder im Haus zu treffen.
Zwischen den niedrigen Häusern außerhalb der Mauern kam mir ein Mann entgegen. In der beginnenden Dunkelheit sah ich zunächst nur seine Umrisse. Er war groß, hielt sich gerade, und als wir aneinander vorbeigingen, ahnte ich eher, als daß ich gesehen hätte, daß sein Gesicht dunkel war und seine Kleidung fast schwarz. Zwischen den Häusern tauchten plötzlich drei Männer auf, die sich mit Knüppeln auf ihn stürzten. Da ich sozusagen neben ihm ging, wenn auch in Gegenrichtung, fühlte ich mich natürlich ebenfalls angegriffen.
Aber das ist nicht wahr. Nichts von ich fühlte. Eigentlich nicht einmal ich, sondern es. So lange her, aber nicht verschwunden, nur verschüttet. All das, was mich in den Jahren des Krieges ausgemacht und mir zu überleben geholfen hatte, war plötzlich da, und irgendwie übernahm es mich. Es fühlte sich angegriffen, es bewegte meine Muskeln und Sehnen, es ließ in meinen Ohren das tonlose Lied von herrlichem Grauen rauschen, auf meiner Zunge jenen unvergleichlich köstlichen und gräßlichen Geschmack entstehen: des Lebens an der äußersten Grenze, die Gier nach dem Töten, dringend und innig wie die Gier nach dem Leib der Geliebten. Und es bedauerte, daß ich keine Waffe trug.
Ein Knüppelschlag verfehlte meinen Kopf nur knapp. Aus den Augenwinkeln sah ich in der Hand eines der Angreifer eine Klinge blitzen; von irgendwo muß wohl karges Licht auf uns gefallen sein. Der Hochgewachsene duckte sich, um einem Stich auszuweichen. Ich hörte etwas klirren – offenbar trug er einen gut gefüllten Beutel am Gürtel. Ich rammte dem anderen, der mich beinahe mit seinem Knüppel getroffen hätte und zu einem weiteren Schlag ausholte, den Kopf in die Achselhöhle; dabei klatschte ich die flache Hand von unten gegen sein Gemächt. Er krümmte sich und stöhnte, ließ den Knüppel fallen und kroch zur Seite. Der Hochgewachsene hatte die Messerhand des zweiten gepackt und rang mit ihm; es sah aus wie ein seltsamer Tanz. Der dritte Angreifer versuchte seinen Knüppel einzusetzen, aber dem Angegriffenen gelang es, den zweiten immer so zu drehen, daß der Knüppel diesen getroffen hätte. Als ich dem dritten meinen Ellenbogen seitlich in den Nacken stieß und die Kante der anderen Hand auf sein Handgelenk hieb, ließ er den Knüppel fallen, jaulte auf und rannte fort. Gleichzeitig hörte ich ein Knacken und einen Schrei und sah das Messer aus der Hand fallen, die fast rechtwinklig vom Arm abstand.
Ein paar Augenblicke später waren der Fremde und ich allein zwischen den Häusern. Inzwischen hatten sich meine Augen ans geringe Licht gewöhnt; ich sah, daß er mich musterte, als wolle er sich mein Gesicht einprägen.
»Danke«, sagte er; nach einer winzigen Pause setzte er hinzu: »Soldat.«
Ich deutete eine knappe Verbeugung an. »Jederzeit. Aber man sollte nicht mit so vielen klirrenden Münzen durch den Abend gehen.«
Er nickte. »Manchmal ist es nicht zu vermeiden. Hüte dich vor krummen Wegen, Freund.« Er hob die Hand und wandte sich zum Gehen.
»Manchmal ist es nicht zu vermeiden«, sagte ich.
Abgesehen von diesem Zwischenfall folgte ich meistens jedoch den Linien des rechtwinkligen Labyrinths namens Dubrovnik, redete mit Marktbauern und Tuchverkäufern, Mönchen und Schankmägden.
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