Das Labyrinth
zündete sich ein Streichholz an. Arkadi erinnerte sich, daß sie ihn bei ihrer ersten Begegnung um Feuer gebeten hatte, um zu sehen, wie er reagierte. Jetzt tat sie es nicht.
Bei jener ersten Begegnung, erinnerte er sich, war er ihr völlig gelassen entgegengetreten, und jetzt war sein Mund trocken, fiel ihm das Atmen schwer. Warum versuchte er es ein drittes Mal? Wollte er wissen, welche Demütigungen er noch ertragen würde? Oder war er einer jener Pawlowschen Hunde, die darauf bestanden, getreten zu werden?
Das Seltsame war, daß Irina die Gleiche schien und es doch nicht war. Was er an ihr zu kennen glaubte, wirkte unverändert, und doch erschien sie ihm als völlig Fremde, die nicht erst kürzlich, sondern schon vor langer Zeit in diesen ihm so vertrauten Körper geschlüpft war. Sie verschränkte die Arme. Der Kaschmirpullover und die goldenen Schmuckstücke auf ihrer Haut hatten keine Ähnlichkeit mehr mit den zerlumpten Kleidern und den Schals aus ihrer Moskauer Zeit. Das Bild von ihr, das er über die Jahre in sich getragen hatte, paßte noch, allerdings wie eine Maske. Es waren andere Augen, die daraus hervorschauten.
Arkadi hatte im arktischen Eis gelebt, doch selbst dort war es nicht so kalt gewesen wie in diesem Raum. Das war das Problem, wenn man sich mit einer Frau auf ein intimes Verhältnis einließ. Wenn man ihr nicht länger willkommen war, wurde man in die Dunkelheit verstoßen, drehte sich um eine Sonne, die kein Licht mehr spendete.
»Wie kommst du denn her?« fragte sie.
»Stas hat mich mitgenommen.«
Sie runzelte die Stirn. »Stas? Ich habe gehört, daß er dich auch mit in den Sender geschleppt hat. Ich habe dir gesagt, daß er ein Provokateur ist. Er geht ein bißchen zu weit heute abend …«
»Erinnerst du dich eigentlich an mich?« fragte Arkadi.
»Natürlich.«
»Anscheinend nicht.«
Irina seufzte. Er kam sich selbst pathetisch vor.
»Natürlich erinnere ich mich an dich. Ich habe nur seit Jahren nicht mehr an dich gedacht. Es ist anders hier im Westen. Ich mußte überleben, einen Job finden. Ich habe viele Leute kennengelernt. Mein Leben hat sich verändert, ich hab mich verändert.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Arkadi. Sie waren wie zwei tektonische Platten, die sich in entgegengesetzter Richtung bewegten. Sie war kalt, analytisch, genau.
»Ich habe dir deine Karriere doch nicht zu sehr vermasselt?«
»Ein russischer Schluckauf.«
»Ich möchte dir gegenüber kein schlechtes Gewissen haben«, sagte sie, obgleich aber auch nichts darauf hindeutete, daß sie je in die Lage kommen könnte.
»Das brauchst du nicht. Meine Erwartungen waren zu hoch gespannt, und vielleicht hat mir mein Gedächtnis auch einen Streich gespielt.«
»Um ehrlich zu sein: Ich hab dich kaum wiedererkannt.«
»Sehe ich so gut aus?« fragte Arkadi. Ein schlechter Witz.
»Ich habe gehört, daß es dir gutgeht.«
»Wer hat dir das gesagt?« fragte Arkadi.
Irina zündete sich eine neue Zigarette an der alten an. Warum müssen Russen fortwährend glimmen, fragte sich Arkadi. Sie sah ihn durch den Rauch an, das Gesicht halb verdeckt von ihrem dichten Haar. Er stellte sich vor, sie zu umarmen. Es war eine Erinnerung. Er dachte an die Wölbung ihrer Wange in seiner Hand, an die weiche Haut ihrer Stirn.
Irina zuckte mit den Achseln. »Max war mir jahrelang ein guter Freund und hat viel für mich getan. Es ist schön, ihn wiederzusehen.«
»Es ist nicht zu verkennen, wie beliebt er ist.«
»Niemand weiß, warum er wieder nach Moskau gegangen ist. Er hat dir geholfen, du hast keinen Grund, dich über ihn zu beklagen.«
»Ich wünschte, ich wäre auch hier gewesen«, sagte Arkadi.
Wenn ich aufstünde und durch den Raum ginge, dachte er, wenn ich durch den Raum ginge und sie einfach in die Arme schlösse, könnte diese Umarmung dann eine Brücke sein? Ihr Gesicht sagte nein.
»Jetzt ist es zu spät. Du bist mir nie nachgekommen. Jeder andere Russe ist hier emigriert oder hat sich abgesetzt. Du bist geblieben.«
»Der KGB sagte .«
»Ich hätte es verstanden, wenn du noch ein, zwei Jahre geblieben wärst, aber du bist für immer geblieben. Du hast mich allein gelassen. Ich habe in New York auf dich gewartet, du bist nicht gekommen. Ich bin nach London, um dir näher zu sein - du bist nicht gekommen. Als ich schließlich herausfand, was du tatst, war es genau das, was du vorher getan hast: Du warst ein Polizist in einem Polizeistaat. Jetzt bist du endlich hier, aber nicht, um
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