Das Labyrinth
die Deutschen einmarschierten? Das wäre großartig.«
Es war eine Wehrmachtskarte. Die Orte und Flüsse trugen deutsche Namen. Weit auseinanderliegende Linien zogen sich durch die ukrainische Steppe, horizontale Striche warnten vor den Sümpfen Bessarabiens, und die Hakenkreuze massierten sich an verschiedenen Fronten, um nach Moskau, Leningrad und Stalingrad vorzustoßen.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Arkadi.
»Nicht einmal ungefähr? Hat er Ihnen denn keine Geschichten erzählt oder sonst was hinterlassen?« fragte Tommy.
»Nur taktische Anweisungen.« Max Albow war zu ihnen getreten. »Versteck dich in einem Erdloch und stoß deinem Feind den Dolch in den Rücken.« Er wandte sich an Arkadi.
»Haben Sie das Gefühl, überwältigt und überrannt worden zu sein? Ich ziehe die Frage zurück. Was mich allerdings interessiert, ist, warum der Vater General und der Sohn Inspektor wird. Gibt es eine Ähnlichkeit zwischen beiden, einen Hang zu Gewalt? Was meinen Sie, Professor? Sie sind Mediziner.«
Der Psychologe, der mit Max gekommen war, trottete immer noch hinter ihm her. »Vielleicht ein Unbehagen an der normalen Gesellschaft?« sagte er.
»Die sowjetische Gesellschaft ist keine normale Gesellschaft«, sagte Arkadi.
»Dann sagen Sie es uns«, sagte Max. »Erklären Sie uns, warum Sie Kriminalpolizist geworden sind. Ihr Vater hat es vorgezogen, Menschen zu töten. Deswegen werden Männer Generäle. Zu behaupten, ein General hasse den Krieg, ist das gleiche, wie von einem Schriftsteller zu behaupten, er hasse Bücher. Aber Sie sind anders. Sie ziehen es vor, den Schauplatz nach dem Mord zu betreten. Sie haben das Blut, ohne den Spaß daran zu haben.«
»Wie das Opfer«, sagte Arkadi.
»Was zieht Sie also zu diesem Beruf? Sie leben in einer der schlechtesten Gesellschaften dieser Welt und spielen freiwillig auch noch die schlechteste Rolle darin. Worin besteht der morbide Reiz? In Leichen herumzustochern? Eine weitere hoffnungslose Seele ins Gefängnis zu schicken? Wie mein Freund Tommy sagen würde: Was hängt da für Sie drin?«
Keine schlechten Fragen. Arkadi hatte sie sich selbst schon gestellt. »Die Vollmacht«, sagte er.
»Die Vollmacht?« wiederholte Max.
»Ja. Wenn jemand getötet wird, müssen die Menschen eine Zeitlang Fragen beantworten, und während dieser Zeit hat ein Kriminalpolizist die Vollmacht, sämtliche Ebenen der Gesellschaft zu untersuchen, und so lernt er zu sehen, wie die Welt gebaut ist. Ein Mord ist für mich etwa so wie ein Schnitt mitten durch ein Haus: Man sieht, welches Stockwerk sich über welchem befindet und welche Tür zu welchem Raum führt.«
»Mord als Soziologie?«
»Als sowjetische Soziologie.«
»Vorausgesetzt, die Leute sind ehrlich. Nur würde ich eher annehmen, daß sie lügen.«
»Mörder lügen tatsächlich.«
Arkadi merkte, daß sich weitere Gäste um sie geschart hatten. Stas beobachtete sie aus einer Ecke des Zimmers. Irina stand in der Diele, vor der offenen Küchentür in ein Gespräch vertieft, und hielt ihnen den Rücken zugekehrt. Arkadi bedauerte, überhaupt den Mund aufgemacht zu haben.
»Da wir von ehrlichen Antworten sprechen - seit wann hören Sie schon Irinas Sendungen?«
»Seit einer Woche.«
Zum erstenmal schien Max überrascht zu sein. »Seit einer Woche? Irina spricht schon seit einer Ewigkeit im Rundfunk. Ich habe erwartet, daß Sie ihr seit Jahren ehrfürchtig zuhören.«
»Ich hatte kein Radio.« Arkadi warf einen Blick in die Diele. Irina war fort.
»Und seit einer Woche haben Sie eines? Und sind jetzt hier in München? Gerade auf dieser Party? Ein erstaunliches Zusammentreffen!« sagte Max. »Das kann doch kein Zufall sein.«
»Vielleicht war es Glück.« Stas mischte sich ins Gespräch ein. »Max, wir würden gern Näheres über Ihre Fernsehkarriere erfahren. Was ist Donahue wirklich für ein Mensch? Und was ist mit Ihrem Jointventure? Ich habe Sie immer für einen Propagandisten gehalten und nicht für einen Geschäftsmann.«
»Aber Tommy wollte mir gerade von seinem Buch erzählen.«
Arkadi stahl sich davon. Er fand Irina in der Küche, wo sie einem offen auf der Anrichte stehenden Karton Zigaretten entnahm. Tommy war ein unordentlicher Koch, Möhrenschalen und Suppengrün lagen auf einem Hackbrett um leuchtendbunte Plastikschüsseln verstreut. Auf einem Regal mit Kochbüchern stand ein tragbares Fernsehgerät. An der Wand hing das Bild einer arischen Mutter. Die Uhrzeiger standen auf zwei Uhr morgens.
Irina
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