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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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überwachsene Wand hinter Irinas Balkon dunkelgrün geworden war - wahrscheinlich hatte vorher Licht gebrannt, das jetzt ausgeschaltet worden war. Er behielt die Tür noch eine Weile im Auge, bevor er begriff, daß sie das Haus verlassen haben mußte, als der Lieferwagen ihm den Blick versperrte. Er hatte erwartet, daß sie bei diesem Wetter den Bus nehmen würde, statt dessen war sie in entgegengesetzter Richtung gegangen, und er hatte sie verpaßt.
    Arkadi lief die Straße hinunter. In der verkürzten Perspektive, wie aufgewühlte Gefühle sie erzeugen, wippten Regenschirme zu beiden Seiten der Straße auf und ab. Ein Türke, der eine spitz zulaufende, aus Zeitungspapier zusammengefaltete Kopfbedeckung trug, fuhr auf einem Fahrrad zwischen den Stoßstangen der Autos hindurch.
    Der Englische Garten säumte die Straße mit einer Wand riesiger Buchen. Weiter unten betrat eine Frau in einem weißen Regenmantel den Park.
    Arkadi überquerte die Straße. Die Radiostation lag jenseits des Englischen Gartens, der als die grüne Lunge Münchens bezeichnet wurde. Er besaß einen Fluß, Bäche, dichte Baumgruppen und Seen - alles an diesem Morgen von dichtem Nebel verhangen, der den Park kalt und dunkel erscheinen ließ und Arkadi veranlaßte, den Kragen seiner Jacke hochzuschlagen.
    Er konnte sie hören, jedenfalls hörte er jemanden gehen. Erinnerte er sich daran, wie sie ging? Lange Schritte, selbstsicher ausschreitend. Sie haßte Regenschirme, genau wie sie Menschenmengen haßte. Er eilte hinter dem Geräusch her und war sich bewußt, daß jedes Zögern den Abstand von ihr vergrößerte. Wenn sie es war, die vor ihm ging. Der Weg entzog sie beharrlich seinen Blicken. Die Zweige der Buchen über ihm ragten wie Gestänge in den Himmel. Die der Eichen reichten weiter herunter und beugten sich vor wie Bettler. Der Weg führte über einen Bach, Dampf stieg von der Wasseroberfläche auf, geisterhaft. Ein Geschöpf, das wie eine große Raupe aussah, schnüffelte an nassen Blättern. Aus der Nähe entpuppte es sich als langhaariger Dackel. Seine Besitzerin folgte ihm mit einer Schaufel und einem Beutel.
    Irina war verschwunden - wenn es Irina gewesen war. Wie viele Frauen hatte er im Laufe der Jahre, aus der Ferne, mit ihren Zügen ausgestattet? Das war die Illusion seines Lebens, sein Alptraum.
    Arkadi hatte den Park für sich allein. Er hörte, wie der Nebel langsam von den Blättern tropfte, das Fallen von Bucheckern auf den aufgeweichten Boden, das Huschen unsichtbarer Vogel. Dann wurden die Schatten lichter, und er fand sich am Rand einer großen Wiese wieder, die völlig von dunklem Grün umschlossen war. Für einen Augenblick sah er auf der anderen Seite einen weißen Fleck aufblitzen.
    Mit dem keuchenden Atem und den schweren Füßen eines Ackergauls lief er über das Gras. Als er den Platz erreichte, an dem der weiße Fleck aufgeblitzt war, war nichts mehr zu sehen. Doch jetzt kannte er die Richtung, die sie eingeschlagen hatte. Ein Weg führte durch eine rotbraune Wand von Ahornbäumen und den träge aufsteigenden Dampf eines anderen Baches. Wieder hörte er Schritte, und dann sah er sie, eine Tasche über der Schulter. Ihr Mantel war eher silbern als weiß und reflektierte das Licht. Ihr Haar, ungeschützt, schien durch die Feuchtigkeit dunkler geworden. Sie sah sich um und ging weiter, schneller als vorher.
    Sie gingen im gleichen Schritt, zehn Meter voneinander entfernt, über eine dunkle Allee. Als der Weg sich zu einem schmalen, durch ein Birkenwäldchen führenden Streifen verengte, blieb sie stehen und lehnte sich gegen einen der weißen, borkigen Stämme, um auf ihn zu warten.
    Schweigend gingen sie zusammen weiter. Arkadi fühlte sich wie ein Mann, der sich einem Reh genähert hatte. Ein falsches Wort, dachte er, und sie wird für immer verschwinden. Als sie ihn ansah, wagte er nicht, ihren Blick zu erwidern oder in ihm zu lesen. Wenigstens gingen sie Seite an Seite. Das allein war schon ein Sieg.
    Er bedauerte, eine so schlechte Erscheinung zu machen. Seine Schuhe waren voller Gras, und seine Jacke war feucht und beulte am Rücken. Sein Körper war zu mager, und wahrscheinlich hatten seine Augen den Glanz eines chronisch Hungernden.
    Sie hatten die Richtung geändert und gelangten an den Rand eines Sees. Das Wasser war schwarz und still. Irina sah hinunter auf das Spiegelbild, auf den Mann und die Frau, die vom Wasser zu ihnen hochschauten, und sagte: »Das ist das Traurigste, was ich je gesehen

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