Das Labyrinth
habe.«
»Meinst du mich?« fragte Arkadi.
»Uns.«
Vögel sammelten sich. Der Park war reich an ihnen. Samtköpfige Stockenten, Braut-, Pfeif- und Krickenten tauchten aus dem Nebel auf und streiften die Wasseroberfläche. Schwalben zeichneten kühn geschwungene Schriftzüge in die Luft, Gänse landeten schwerfällig auf ihren Füßen.
Sie saßen auf einer Bank.
»Es gibt Leute, die jeden Tag herkommen, um die Vögel zu füttern«, sagte sie. »Sie bringen ganze Einkaufstüten voller Brot mit.«
Es war so kalt, daß ihr Atem sich zu dünnen Wolken verdichtete.
»Ich kann nachempfinden, wie diese Vögel sich fühlen«, sagte sie. »Du dagegen bist nie gekommen. Das werde ich dir nie vergeben.«
»Ich weiß.«
»Und jetzt, wo du hier bist, hab ich wieder das Gefühl, ein Flüchtling zu sein. Ich mag dieses Gefühl nicht.«
»Niemand mag es.«
»Aber ich lebe schon seit Jahren im Westen. Ich habe ein Recht, hierzusein, Arkadi. Geh nach Hause. Laß mich allein.«
»Nein. Ich werde nicht gehen.«
Er hatte fast erwartet, daß sie aufstehen und davonlaufen würde. Es wäre ihr gefolgt, was sonst hätte er tun können? Sie blieb. Sie ließ sich eine Zigarette von ihm anzünden. »Eine schlechte Angewohnheit«, sagte sie. »Wie du.«
Ein Gefühl der Vergeblichkeit lag in der Luft. Kälte drang durch seine dünne Jacke. Er hörte sein Herz schlagen und glaubte, über dem Wasser den Widerhall der pochenden Schläge zu vernehmen. Eine einzige schlechte Gewohnheit - genau das war er: unwissend, unfähig, sich unterzuordnen, körperlich in mieser Verfassung - ein Mann mit nichts als stumpfen Rasierklingen.
So viele Vögel waren gekommen - einige als Schwarm, andere einzeln aus dem Nebel niedersegelnd -, daß Arkadi an die schwimmende Fischfabrik erinnert wurde, auf der er einen Teil seines Exils verbracht hatte, an die Möwen, die sich über dem Heck sammelten und sich um den Abfall und den Uberschuß aus den Netzen stritten. Er erinnerte sich, wie er am Heck gestanden und eine Zigarette zerkrümelt hatte, wie eine Möwe das Papier in der Luft aufgefangen und als Trophäe mit sich genommen hatte. »Such die russische Ente«, sagte er.
»Wo?«
»Die mit den schmutzigen Federn und der Zigarette im Schnabel.«
»So etwas gibt es nicht.«
»Aber du hast sie gesucht, ich habe es gesehen. Stell dir vor, die russischen Enten erfahren von diesem See und all dem Brot, das es hier zu fressen gibt. Zu Millionen kämen sie her.«
»Auch die Schwäne?«
Eine Reihe von Schwänen glitt majestätisch heran. Als eine Stockente nicht auswich, streckte der an der Spitze schwimmende Schwan seinen langen Hals aus, öffnete seinen Schnabel und grunzte wie ein Schwein.
»Ein russischer Schwan. Der erste Vorbote«, sagte Arkadi.
Irina rückte etwas von Arkadi ab, um ihn zu mustern. »Du siehst wirklich schlimm aus.«
»Von dir kann ich das nicht sagen.«
Sie lenkte das Licht auf sich, Nebeltropfen nisteten in ihrem Haar wie Edelsteine. »Ich habe gehört, daß es dir gutging in Moskau«, sagte sie.
»Vom wem hast du das gehört?«
Sie zögerte. »Du bist nicht der, den ich erwartet habe. Du bist der, an den ich mich erinnere.«
Sie gingen langsam weiter. Arkadi bemerkte, daß sie ihm einen kritischen Millimeter nähergekommen war und ihre Schultern sich gelegentlich berührten.
»Stas hat sich immer für dich interessiert. Es überrascht mich nicht, daß ihr Freunde geworden seid. Max sagt, ihr beide seid Artefakte des Kalten Krieges.«
»Das stimmt. Ich bin wie ein Stück Marmor, das du in einer alten Ruine findest. Du hebst es auf, drehst es in deiner Hand und fragst dich: >Was ist das? Teil eines Pferdetrogs oder einer edlen Statue?< Ich möchte dir etwas zeigen.« Er zog einen Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn und zeigte ihr das Stück Papier mit dem einen Wort darauf.
»Mein Name«, sagte sie.
»Es ist die Handschrift meines Vaters. Ich hatte jahrelang nichts mehr von ihm gehört. Das hier aufzuschreiben muß das Letzte gewesen sein, was er getan hat, bevor er starb. Hast du irgendwann mit ihm gesprochen?«
»Ich wollte Verbindung mit dir aufnehmen, ohne dich in Schwierigkeiten zu bringen. Also habe ich es über deinen Vater versucht.«
Arkadi versuchte, es sich vorzustellen. Wie eine Taube, die in ein offenes Feuer fliegt, dachte er. Auch wenn sein Vater in den letzten Jahren eher ein erloschenes Feuer gewesen war.
»Er hat mir gesagt, was für ein Held du gewesen bist. Wie man versucht hat, dich
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