Das Labyrinth
Direktor des New Yorker Museum of Modern Art, 1935 Hannover besuchte. Er erwarb zwei der Gemälde und schmuggelte sie, eingerollt in seinen Regenschirm, aus Deutschland heraus. Das Museum in Hannover betrachtete den Besitz der restlichen Malewitsch-Sammlung als zu gefährlich und schickte sie einem der Männer, bei dem Malewitsch in Berlin gewohnt hatte, dem Architekten Hugo Haring, der sie zuerst in seinem Haus und dann, während der Luftangriffe auf Berlin, in seiner Heimatstadt Biberach im Süden Deutschlands versteckte.
Siebzehn Jahre später - der Krieg war vorbei und Malewitsch tot - verfolgten Kuratoren des Amsterdamer Stedelijk Museum den Weg der Knauer-Kisten zu Haring, der noch in Biberach lebte, und erwarben die Bilder, die heute die größte Sammlung von Malewitsch-Werken im Westen bilden. Von den Fotos der Berliner Ausstellung aber wissen wir, daß fünfzehn größere Gemälde fehlen. Wir wissen auch, daß einige der besten Bilder, die Malewitsch mit nach Berlin gebracht hatte, in der Berliner Ausstellung überhaupt nicht gezeigt wurden. Wie viele dieser nicht gezeigten Bilder verschwunden sind, werden wir wohl nie erfahren. Verbrannten sie in Berlin? Wurden Sie auf dem Transport von übereifrigen Postbeamten zerstört, die sie als entartete Kunst konfiszierten? Oder wurden sie, in Kisten verpackt, in Hannover oder im OstBerliner Speicherhaus der Transportfirma Gustav Knauer gelagert und in den Wirren des Krieges einfach vergessen?«
Das Foto von Malewitsch auf dem Projektionsschirm wurde durch eine halb von Stempeln und vergilbten Dokumenten verdeckte Kiste ersetzt. Es war die, die in der Galerie stand. Irina sagte: »Diese Kiste gelangte einen Monat nach Fall der Berliner Mauer hier in die Galerie. Das Holz, die Nägel, die Art des Zusammenbaus und die Versandpapiere stimmen mit denen sonstiger Knauer-Kisten überein. Die Kiste enthielt ein Gemälde, Öl auf Leinwand, dreiundfünfzig mal dreiundfünfzig Zentimeter. Die Galerie erkannte sofort, daß sie in den Besitz eines Malewitsch oder einer meisterhaften Fälschung gelangt war. Welches von beiden?«
Die Kiste verblaßte, und auf dem Schirm erschien erneut das Bild, diesmal in tatsächlicher Größe, ein hypnotisches Rot.
»Insgesamt gibt es weniger als einhundertzwanzig Ölgemälde von Malewitsch. Ihre Seltenheit im Verein mit der Bedeutung, die sie in der Geschichte der Kunst einnehmen, läßt ihren hohen Wert verständlich erscheinen, insbesondere solcher Meisterwerke wie des Roten Quadrats. Die meisten Bilder Malewitschs wurden fünfzig Jahre hindurch als ideologisch fehlgerichtete Kunst in Rußland unterdrückt. Jetzt tauchen sie allmählich wieder auf, wie politische Geiseln, die endlich das Licht des Lebens sehen dürfen. Die Lage wird jedoch dadurch kompliziert, daß zahllose Fälschungen den westlichen Kunstmarkt überschwemmen. Dieselben Fälscher, die früher mittelalterliche Ikonen produzierten, produzieren heute Werke der modernen Kunst. Im Westen verlassen wir uns auf Dokumente, die ihre Echtheit bezeugen - Ausstellungskataloge und Rechnungen, die uns die Daten angeben, zu denen ein Kunstwerk ausgestellt, verkauft und weiterverkauft wurde. Die Situation in der Sowjetunion ist anders. Kam ein Künstler ins Gefängnis, wurden seine Werke konfisziert. Wenn seine Freunde dann davon erfuhren, versteckten sie entweder schleunigst, was sie von ihm besaßen, oder sie vernichteten es. Die Werke, die wir heute von der russischen Avantgarde besitzen, verdanken ihr Überleben all den unwahrscheinlichen, individuell unterschiedlichen Begleitumständen, denen Überlebende ihr Dasein nun einmal verdanken. Viele echte Werke haben im wesentlichen Sinne überhaupt keine Provenienz. Die üblichen westlichen Echtheitsbestätigungen von einem Überlebenden des Sowjetstaats zu verlangen, wäre gleichbedeutend damit, sein Überleben überhaupt zu leugnen.«
Auf dem Videoband drehten Hände in Gummihandschuhen das Rote Quadrat vorsichtig um und lösten einige Fäden aus der Leinwand, die analysiert und als deutsches Fabrikat aus der richtigen Zeit identifiziert wurden. Irina wies darauf hin, daß Russen stets deutsches Malermaterial verwendeten, wenn sie konnten.
Es gab Gemälde innerhalb von Gemälden. Unter Röntgenstrahlen wurde das Rote Quadrat zu einem Negativ, das ein übermaltes Rechteck enthüllte. Unter fluoreszierendem Licht ging die untere Schicht des Zinkweiß in einen kremigen Farbton über. Unter Ultraviolettbestrahlung wurde Weiß zu Blau.
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