Das Labyrinth
überraschen«, sagte Arkadi, »aber ein Mann hier in Moskau hat vor zwei Wochen erst ein Fax erhalten, in dem er gefragt wurde: >Wo ist der Rote Platz?< Auf englisch.«
Michael zuckte die Achseln.
Mit schweren Kameras und Handgepäck beladene Fotografen schlurften vor Stas und Irina einen Schritt weiter. Stas schob je einen Fünfzig-Mark-Schein in seinen und Irinas Paß.
»Das Fax kam aus München. Von Radio Liberty, um genau zu sein.«
»Wir haben eine ganze Anzahl von Faxgeräten.«
»Die Nachricht kam von Ludmillas Gerät. Sie war an einen Schwarzmarktspekulanten adressiert, der aber leider nicht mehr lebte. Deshalb habe ich sie gelesen. >Where is Red Square?< Ich habe die Frage erst verstanden, als ich das Gemälde sah.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
>»Wo ist der Rote Platz?< ergibt keinen Sinn. >Wo ist das Rote Quadrat?< ist jedoch durchaus sinnvoll, wenn man einen Mann fragt, der glaubt, ein Bild verkaufen zu können. Ludmilla als Russin, die einem anderen Russen eine Nachricht zukommen läßt, hätte den Text natürlich auf russisch formuliert. Aber wie steht’s mit Ihnen? Wie gut ist Ihr Russisch?«
In Sibirien werden Kaninchen nachts mit Taschenlampen und Keulen gejagt. Die Kaninchen richten sich auf und starren in den Strahl der Taschenlampe, bis sie von der Keule getroffen werden. Selbst hinter seiner dunklen Brille hatten Michaels Augen den starren Blick eines Kaninchens. Er sagte: »Alles das beweist doch nur, daß derjenige, der das Fax geschickt hat, von der Annahme ausging, daß der Empfänger noch am Leben war.«
»Genau«, sagte Arkadi. »Es beweist aber auch, daß jemand versuchte, mit Rudi ins Geschäft zu kommen. Hat Max Sie mit Rudi bekanntgemacht?«
»Es ist nicht ungesetzlich, ein Fax zu schicken.«
»Nein, aber Sie haben Rudi auch nach einem Finderlohn gefragt. Sie haben versucht, Max auszuschalten.«
»So beweisen Sie überhaupt nichts«, sagte Michael.
»Überlassen wir es Max, das zu beurteilen. Ich werde ihm das Fax zeigen. Es steht Ludmillas Nummer drauf.«
Die Schlange vor der Zollabfertigung bewegte sich wieder einen Schritt weiter, und Stas Kolotow, gesucht wegen Landesverrats, blickte den Beamten hinter der Glasscheibe fest an. Dieser verglich Augen, Ohren, Haaransatz und Größe mit dem Bild und den Angaben im Paß und blätterte die Seiten durch.
»Sie wissen, was mit Rudi passiert ist«, sagte Arkadi. »In Deutschland sind Sie allerdings auch nicht sicherer. Denken Sie an das, was mit Tommy passiert ist.«
Stas erhielt seinen Paß zurück. Irina schob ihren durch den Schlitz. Ihr Blick war so stolz, daß er eine Verhaftung geradezu herausforderte. Der Beamte schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Nach einem professionellen Durchblättern der Seiten erhielt sie ihren Paß zurück, und die Schlange bewegte sich weiter.
»Ich glaube nicht, daß jetzt die beste Zeit dafür ist, sich stark zu machen«, sagte Arkadi. »Es ist die Zeit, sich zu fragen: >Was kann ich für Renko tun, damit er Max nichts von der Sache erzählt?<«
Trotz Stas’ Drängen blieb Irina hinter der Zollabfertigung stehen. Arkadi bildete mit den Lippen das Wort »geh«, und er und Michael sahen, wie Stas sie zum Ausgang führte.
»Gratuliere«, sagte Michael. »Nachdem es Ihnen gelungen ist, sie ins Land zu bringen, wird sie wahrscheinlich getötet werden. Aber denken Sie daran: Sie haben sie hergebracht.«
»Ich weiß.«
Ein deutsches Fernsehteam feilschte um den Preis, die mitgebrachten Videokameras einführen zu dürfen. Ein Zollbeamter wies darauf hin, daß das Notstandskomitee erst am Morgen die Übertragung von Videobildern durch ausländische Reporter verboten habe. Der Beamte steckte hundert Mark als inoffizielle Bürgschaft dafür ein, daß das Team keine vom Komitee erlassenen Bestimmungen verletzen würde. Die anderen Kamerateams, die vor Arkadi in der Schlange standen, hatten bereits ähnliche finanzielle Abkommen mit den Zollbeamten getroffen und eilten auf ihre Wagen zu. Arkadis sowjetischer Paß war eine Enttäuschung. Wie ein Kassierer winkte ihn der Zollbeamte durch.
Eine offene Doppeltür führte in die Wartehalle, wo sich Familien mit in Cellophan gewickelten Blumensträußen versammelt hatten, um ihre Angehörigen in Empfang zu nehmen. Arkadi hielt nach Männern mit schweren Sporttaschen Ausschau. Da die Metalldetektoren in Scheremetjewo ausnahmsweise funktionierten, waren die einzigen Personen, die mit Sicherheit unbewaffnet und ungeschützt waren, die
Weitere Kostenlose Bücher