Das Labyrinth
Maschinengewehrfeuer eingedeckt hatten. Die Zahl der Toten hat sich auf zweihundert erhöht. Abermals ist die Forderung erhoben worden, den Usgenkanal zu entwässern, um nach weiteren Leichen zu suchen.«
Das Brot war frisch, der Käse würzig. Ein Luftzug drang durch das geöffnete Fenster, und die Vorhänge bewegten sich.
»Ein Sprecher der Roten Armee hat heute zugegeben, daß afghanische Aufständische über die sowjetische Grenze vorgedrungen sind. Seit die sowjetischen Truppen sich aus Afghanistan zurückgezogen haben, ist die Grenze für Drogenhändler und religiöse Extremisten durchlässig geworden, die die zentralasiatischen Republiken dazu zu bringen versuchen, einen Heiligen Krieg gegen Moskau zu beginnen.«
Die Sonne hing über dem Horizont, den Zwiebeltürmen und Schornsteinköpfen. Irinas Stimme war eine Spur rauher geworden, und ihr sibirischer Akzent klang gewählter und raffinierter. Arkadi dachte an ihre weit ausholenden Gesten und an die Farbe ihrer Augen, wie Bernstein. Er ertappte sich dabei, daß er sich vorgelehnt hatte, als wollte er seinen Teil zum Gespräch beitragen.
»Bergleute in Donezk haben gestern die Abdankung der Regierung und das Verbot der Partei gefordert und den Beginn eines neuen Streiks angekündigt. Arbeitsniederlegungen bestimmen auch das Bild in allen sechsundzwanzig Bergwerken in Rostow am Don. Die Bergleute in Swerdlowsk, Tscheljabinsk und Wladiwostok haben zur Unterstützung der Streikenden zu Massenkundgebungen aufgerufen.«
Die Nachrichten waren nicht wichtig, er nahm sie kaum zur Kenntnis. Es waren ihre Stimme und ihr Atem, die über Tausende von Kilometern zu ihm drangen.
»Gestern abend haben sich in Moskau Angehörige der Demokratischen Front am Gorki-Park zu einer Demonstration zusammengefunden, um das Verbot der Kommunistischen Partei zu verlangen. Zur gleichen Zeit versammelten sich Mitglieder des rechtsorientierten Roten Banners, um die Partei zu verteidigen. Beide Gruppen verlangten das Recht, auf den Roten Platz zu marschieren.«
Sie ist meine Scheherazade, dachte Arkadi. Abend für Abend kann sie von Unterdrückung, Aufruhr, Streiks und Naturkatastrophen berichten, und ich werde ihr zuhören, als erzählte sie Geschichten über exotische Länder, Zaubertränke, blitzende Krummdolche und perlenäugige Drachen mit goldenen Schuppen. Solange sie nur zu mir spricht.
Gegen Mitternacht wartete Arkadi vor der LeninBibliothek und bewunderte die Statuen russischer Schriftsteller und Gelehrter, die über dem Dachsims aufragten. Er dachte an das, was er über den baufälligen Zustand der Bibliothek gehört hatte. Tatsächlich sahen die Statuen aus, als wären sie bereit, im nächsten Augenblick schon vom Dach zu springen. Als ein Schatten auftauchte und die Tür verschloß, überquerte Arkadi die Straße und stellte sich vor.
»Ein Inspektor? Überrascht mich nicht.« Feldman, eine Pelzkappe auf dem Kopf, trug eine Aktentasche und sah mit seinem schneeweißen Ziegenbart wie Trotzki aus. Er begann, mit schnellen Schritten auf den Fluß zuzugehen, und Arkadi schloß sich ihm an. »Ich habe meinen eigenen Schlüssel. Ich habe nichts gestohlen. Wollen Sie mich durchsuchen?«
Arkadi ignorierte die Aufforderung. »Woher kennen Sie Rudi?«
»Es ist die einzige Zeit, in der ich arbeiten kann. Ich danke Gott, daß ich an Schlaflosigkeit leide. Sie auch?«
»Nein.«
»Sie sehen so aus. Sie sollten einen Arzt aufsuchen. Oder macht es Ihnen auch nichts aus?«
»Rudi?« beharrte Arkadi.
»Rosen? Ich kenne ihn nicht. Wir haben uns nur einmal getroffen, vor einer Woche. Er wollte mit mir über Kunst sprechen.«
»Wieso über Kunst?«
»Ich bin Professor für Kunstgeschichte. Ich habe Ihnen doch schon am Telefon gesagt, daß ich Professor bin. Sie sind ein verdammt aufdringlicher Polizist, das kann ich jetzt schon sagen.«
»Was hat Rudi von Ihnen wissen wollen?«
»Er wollte alles über sowjetische Kunst wissen. Die sowjetische Avantgarde-Kunst stand für die kreativste, die revolutionärste Epoche unserer Geschichte, aber der Sowjetbürger ist ein Ignorant. Und selbst ich konnte Rosen nicht in einer halben Stunde zum Kunstkenner ausbilden.«
»Hat er Sie über bestimmte Gemälde befragt?«
»Nein. Aber ich sehe, was Sie meinen, und es amüsiert mich. Jahrelang hat die Partei sozialistischen Realismus gefordert, und die Leute haben sich Traktoren an die Wand gehängt und die avantgardistischen Meisterwerke hinterm Schrank versteckt. Jetzt holen sie sie wieder
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