Das Labyrinth
Die Zeit, in der noch in Nachtschichten gearbeitet wurde, war vorbei, und zu dieser Stunde waren die Fabriken um den Hafen leer, abgesehen von ein paar verlorenen Wächtern. Arkadi fragte sich, wieviel von der Stadt er und Polina wohl anzünden könnten, bevor es jemand bemerkte.
Als sie ihre Notizen durchblätterte, sagte Polina: »Ich hatte eigentlich Puppen in die Wagen setzen wollen.«
»Puppen?«
»Schaufensterpuppen. Mit Thermometer Aber ich konnte nicht mal ein einzelnes Küchenthermometer auftreiben.«
»Alles ist so schwer aufzutreiben.«
»Weil sich chemische Verbrennungen nicht exakt bestimmen lassen, besonders die Zeit nicht, bis es zur Entzündung kommt.«
»Ich habe den Eindruck, daß es für Kim leichter gewesen; wäre, wenn er Rudi mit seiner Maschinenpistole durchsiebt hätte. Nicht, daß ich es nicht genossen hätte, die Wagen hier hochgehen zu sehen. Das ist wie eine Witwenverbrennung. Wissen Sie, wie diese indischen Frauen, die sich mit auf dem Scheiterhaufen opfern, auf dem ihre Männer verbrannt werden. Das Spektakel hier gleicht einer großen Witwenverbrennung am Ganges, nur, daß wir an der Moskwa sitzen, und das nicht am Tage, sondern mitten in der Nacht, und vergessen haben, die nötigen Witwen aufzutreiben. Nicht mal Puppen. Sonst ist aber alles sehr romantisch.«
»Das ist nicht analytisch gedacht.«
»Analytisch? Ich brauche nicht einmal ein Küchenthermometer. Ich habe Rudi gerochen. Er war gut durchgebraten.«
Polina war schockiert, Arkadi war über sich selbst entsetzt. Was konnte er jetzt sagen? Daß er müde war, wütend, nach Haus gehen wollte, um sein Ohr ans Radio zu legen? »Es tut mir leid«, sagte er. »Das war nicht nett.«
»Ich glaube, Sie sollten sich einen anderen Pathologen suchen«, sagte Polina.
»Ich glaube, daß ich am besten nach Hause gehe.«
Als er ausstieg, explodierte der siebte Wagen und jagte Fontänen von Glassplittern hoch in die Luft. Der Moskwitsch brannte wie ein Hochofen, weiße Flammen sprangen von Fenster zu Fenster und verbreiteten Hitze um sich. Als die Sitze anfingen zu brennen, wechselten die Flammen ihre Farbe und spien einen dichten, schmutzigen, mit Giftstoffen gesättigten Rauch aus. Der Lack warf Blasen, und der ganze Kai leuchtete im Widerschein der wie Kohle glühenden Glassplitter.
Er sah, daß sich Polina wieder Notizen machte. Sie hätte einen guten Mörder abgegeben, dachte er. Sie war eine gute Pathologin. Er war ein Idiot.
»Traurige Sache mit Rudi. Er war so warmherzig, nahm soviel Anteil und kümmerte sich um die jungen Menschen der Sowjetunion.« Antonow fuhr zusammen, als ein Junge einen anderen in die Ecke trieb und ihm den Mundschutz aus den Zähnen schlug. »Wie oft war er hier, ermutigte die Jungs, ermahnte sie, fair und anständig zu bleiben.« Antonow nickte zustimmend, als der bedrängte Kämpfer sich befreite. »Dran bleiben, dran bleiben! Beweg dich! Willst du eine Windmühle imitieren, oder was soll das Gefuchtel? Also, Rudi war für uns hier der gute Onkel. Dies ist nicht der Mittelpunkt Moskaus. Die Jungs hier gehen nicht auf die Akademie, um sich zum Ballettänzer ausbilden zu lassen. Verpaß ihm eine! Aber die Jugend ist nun mal unser wertvollster Besitz. Jeder Junge und jedes Mädchen im Komsomol hat eine faire Chance. Modellflugzeuge, Schach, Basketball. Ich wette, daß Rudi jeden Klub hier gesponsert hat. Einen Schritt zurück! Nicht du!
Er!«
Jaak hatte sich noch nicht gemeldet. Zwar hatte Polina angerufen, aber das Leichenschauhaus war wirklich der letzte Ort, an dem Arkadi den Tag beginnen wollte. Kriegte sie denn nie genug? Andererseits wurden seine Kopfschmerzen auch nicht dadurch besser, daß er zusah, wie diese Burschen aufeinander eindroschen. Sportlehrer Antonow machte den Eindruck, als sei sein Gehirn schon vor langer, langer Zeit weichgeklopft worden. Er hatte kurzgeschnittenes, graues Haar und flache, ausdruckslose Gesichtszüge. In seinen Fäusten, deren Adern so stark hervortraten, daß sie eigene Knöchel zu bilden schienen, hielt er den Schläger eines Gongs und eine Stoppuhr. Die Jungen im Ring trugen Helme, Pullunder und Shorts. Ihre Haut war bis auf die Stellen, an denen sie getroffen worden waren, blaß wie Kartoffelfleisch. Manchmal sahen sie aus, als ob sie boxten, im nächsten Augenblick, als versuchten sie ungeschickt zu tanzen. Neben dem Ring bot der Komsomol-Klub Leningrad Raum für Ringermatten und Gewichte, so daß die Wände widerhallten von dem Keuchen der
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