Das Labyrinth
leid, daß das alles so schauerlich ist.«
»Wenn ich daran Anstoß nähme, hätte ich wohl den falschen Beruf gewählt«, sagte Polina.
»Vielleicht habe ich den falschen Beruf gewählt«, sagte Arkadi.
Die meisten Transaktionen am Verkaufsstand beschränkten sich auf einen stummen, mürrischen Austausch von Rubeln und Bezugsscheinabschnitten gegen die Rüben, wenn auch jeder Vierte oder Fünfte sich heftig darüber beklagte, betrogen worden zu sein, und mehr verlangte - Anschuldigungen, in denen Verdruß, Hysterie und Zorn widerklangen und die die Menschen enger heranrücken ließen, bis sie von Soldaten wieder zurückgestoßen wurden, so daß die Schlange letztlich in ständiger Bewegung war. Der Regen hatte wenigstens insofern sein Gutes, als er die Rüben sauberwusch. Den hinter dem Stand aufgestapelten Säcken sah man ihre lange Reise vom Land in die Stadt deutlich an, das feuchte Sackleinen war schmutzig und stellenweise zerrissen. Die nasseren Säcke hatten sich hellrot verfärbt, und der Boden um sie herum war so rot wie die Schale der Waage, an deren Innenseite sich Rübenreste festgesetzt hatten. Polina schaute auf ihre Zehen und die Sandalen, die ebenfalls von rötlicher Farbe überzogen schienen. Arkadi beobachtete ihr Gesicht, das plötzlich wachsbleich wurde, und fing sie auf, als sie zu Boden sank.
»Nicht in die Leichenhalle, nur nicht dahin«, sagte sie.
Arkadi legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie in die Petrowka-Straße, um nach einer Bank zu suchen, auf der sie sich hinsetzen konnte. Gegenüber von ihnen verließ ein Krankenwagen das Tor eines gelbbraun gestrichenen Gebäudes, eines jener vor der Revolution errichteten herrschaftlichen Häuser, welche die Partei gern für ihre Büros benutzte. Es schien jetzt als Krankenhaus zu dienen.
Als er sie über die Straße in den Innenhof des Gebäudes geschafft hatte, sagte Polina: »Keinen Arzt.«
An der einen Seite des Hofes war eine rustikale Holztür neckisch mit krähenden Hähnen und tanzenden Schweinen bemalt. Sie öffneten sie und betraten ein leeres Cafe. Ledergepolsterte Bänke gruppierten sich um kleine Tische, und eine Reihe von Barhockern stand vor einem hohen Tresen, hinter dem ein Arsenal von Orangensaftpressen fast die ganze Wand einnahm.
Polina setzte sich auf eine der Bänke, legte ihren Kopf zwischen die Knie und sagte: »Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
Eine Kellnerin tauchte aus der Küche auf, um sie fortzujagen, aber Arkadi zückte seinen Ausweis und verlangte einen Cognac.
»Das hier ist eine Klinik. Wir servieren keinen Cognac.«
»Dann eben klinischen Cognac.«
»Nur gegen Dollar.«
Arkadi legte eine Packung Marlboro auf den Tisch. Die Kellnerin starrte sie ausdruckslos an. Er legte die andere Packung hinzu. »Zwei Packungen.«
»Und dreißig Rubel.«
Sie verschwand, kehrte einen Augenblick später zurück, stellte eine Flasche armenischen Cognac mit zwei Gläsern auf den Tisch und strich mit der gleichen schwungvollen Bewegung das Geld und die Packungen ein.
Polina richtete sich auf und ließ den Kopf zurückfallen. Haarlöckchen hingen ihr ins Gesicht. »Das ist die Hälfte unseres Wochenlohns«, sagte sie.
»Wozu soll ich es sparen? Für Rüben?«
Er schenkte ihr Glas ein, das sie mit einem Schluck leerte.
»Diese verdammten Leichen. Wenn man erst einmal weiß, was mit ihnen los war, ist es um so schlimmer, nicht besser.«
Sie atmete tief ein und aus. »Deswegen bin ich auch weg. Dann sah ich die Schlangen vor den Verkaufsständen und hab mich angestellt. Niemand fordert einen auf, wieder an die Arbeit zu gehen, wenn man Einkäufe erledigt.«
An der Bar suchte die Kellnerin in ihrer Schürze nach einem Feuerzeug, zündete sich eine Zigarette an und atmete den Rauch mit einem Genuß ein, der ihr die Augen verschleierte. Arkadi beneidete sie.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Was für eine Art Klinik ist das hier? Mit einem Cafe mit Ledersitzen und indirekter Beleuchtung - recht eigenartig.«
»Für Ausländer«, sagte die Kellnerin. »Es ist eine Diätklinik.«
Arkadi und Polina tauschten einen Blick aus. Es muß hier so was wie Hysteie in der Luft liegen, dachte er. Polina schien das Bedürfnis zu haben, gleichzeitig zu lachen und zu weinen, und er spürte den gleichen Drang. »Nun, Moskau ist für so was geradezu ideal«, sagte er.
»Sie könnten sich keinen besseren Platz aussuchen«, sagte Polina.
Arkadi sah, daß die Farbe in ihre Wangen zurückkehrte. Interessant, wie
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