Das Labyrinth
geschrieben? Am klügsten wäre es, dachte er, den Brief auf die Straße zu werfen. Der Regen würde ihn in einen Gully spülen und der Fluß ihn dann weiter ins Meer tragen, wo das Papier sich entfaltete, während die Tinte auseinanderlief und verblaßte wie Gift. Statt dessen schob er ihn zurück in seine Tasche.
Minin öffnete ihm die Tür zu Rudis Wohnung.
Der Inspektor war aufgebracht, da er Gerüchte gehört hatte, daß Spekulationen legalisiert werden sollten. »Das untergräbt die Basis unserer Ermittlungen«, sagte er. »Wenn wir uns keinen Geldwechsler mehr greifen können, wen sollen wir dann noch festnehmen?«
»Es gibt immer noch genug Mörder, Vergewaltiger und Straßenräuber Sie werden schon zu tun haben«, versicherte Arkadi ihm und gab ihm Hut und Mantel. Minin aus der Wohnung zu schaffen, war nicht weniger leicht, als einen Maulwurf auszugraben. »Sehen Sie zu, daß Sie etwas Schlaf bekommen. Ich übernehme hier.«
»Die Mafia wird Banken eröffnen.«
»Sehr wahrscheinlich. Damit beginnen sie gewöhnlich, soweit ich weiß.«
»Ich habe alles durchsucht«, sagte Minin und näherte sich widerstrebend der Schwelle. »Nichts in Büchern, Schränken oder unter dem Bett versteckt. Ich hab eine Liste auf den Schreibtisch gelegt.«
»Verdächtig sauber, was?«
»Nun …«
»Das finde ich auch«, sagte Arkadi, wobei er die Tür zu schließen begann. »Und machen Sie sich keine Sorgen wegen ausbleibender Verbrechen. In Zukunft werden wir einfach nur eine bessere Klasse von Kriminellen haben - Bankiers, Makler, Geschäftsleute. Sie müssen gut ausgeschlafen sein, um damit fertigzuwerden.«
Als er allein war, trat Arkadi als erstes an den Schreibtisch, um festzustellen, ob das Faxgerät benutzt worden war. Nichts, und die Papierrolle trug noch dieselbe Bleistiftmarkierung auf der Rückseite, die er angebracht hatte, nachdem er die Anfragen wegen des Roten Platzes abgerissen hatte. Er griff nach Minins Liste. Minin hatte Rudis Matratze aufgeschnitten, die Schränke und Schubladen inspiziert, Schalter abgeschraubt, Fußleisten abgeklopft, die ganze Wohnung auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, ohne etwas zu finden.
Arkadi sah sich die Auflistung nicht weiter an. Das Wichtige, dachte er, mußte augenfälliger sein. Früher oder später paßte sich eine Wohnung seinem Besitzer an wie ein Handschuh. Er mochte fort sein, aber seine Spuren blieben erhalten. Als Abdrücke in einem Sessel, in einer Brotkrume, einem vergessenen Brief, im Geruch nach Hoffnung oder Verzweiflung. Arkadi mußte nach ihnen suchen, da er in technischer Hinsicht wenig Unterstützung für seine Ermittlungen erwarten durfte. Die Miliz hatte teure deutsche und schwedische Geräte angekauft, Spektrographen und Apparate zur Bestimmung von Blutgruppen, aber die standen unnütz herum, da ihnen wichtige Teile fehlten. Es war nicht möglich, Computervergleiche von Bluttypen oder auch nur Nummernschildern anzustellen, ganz zu schweigen von »genetischen Fingerabdrücken«. Was die sowjetischen Labors besaßen, waren schwarz angelaufene Reagenzgläser, archaische Bunsenbrenner und Glasröhren, wie sie der Westen seit fünfzig Jahren nicht mehr kannte. Polina war es trotz, nicht wegen ihrer Ausrüstung gelungen, in Rudis Leichnam Antworten auf ihre Fragen zu finden.
Da die Kette harter Beweise in der Regel dünn war, waren sowjetische Ermittler auf weichere Indizien angewiesen, auf soziale Hinweise und ihre Logik. Arkadi wußte von Kollegen, die der Meinung waren, daß sie bei hinreichender Kenntnisnahme des Tatorts Geschlecht, Alter, Beruf und sogar die Hobbys eines Mörders erschließen konnten. Der einzige Platz in der Sowjetunion, an dem sich psychologische Analysen frei entfalten durften, war die Kriminalistik. Natürlich verließ sich die sowjetische Kripo von jeher auch auf Geständnisse. Ein Geständnis löste alles. Aber Geständnisse waren nur von Amateuren und Unschuldigen zu erlangen. Mahmud oder Kim würden nie auf die Idee kommen, ein Geständnis abzulegen. Ebensogut könnten sie plötzlich anfangen, Latein zu reden. Was hatte diese Wohnung bisher preisgegeben? Eines: »Where is Red Square?«
War Rosen religiös? Es gab keine Menora, keine Thora, Gebetsschals oder Sabbatkerzen. Die Porträts seiner Eltern boten nur ein Minimum an Familiengeschichte, gewöhnlich waren russische Wohnungen Galerien sepiabrauner Fotos zahlloser Vorfahren in ovalen Rahmen. Wo waren Rudis Bilder von sich und seinen Freunden? Er legte
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