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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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der Sohn verleugnete seinen Vater. Der eine verweigerte die Zukunft, der andere die Vergangenheit, und keiner von ihnen wagte, wie Arkadi endlich erkannte, den Augenblick zu erwähnen, der sie beide für immer miteinander verbunden hatte. Der Junge und der Mann hatten vom Ufer aus auf zwei Füße im träge dahinfließenden, warmen Fluß gestarrt, der den Wiesenrand vor der Datscha entlanggeflossen war. Die Füße waren nackt und stiegen weder auf, noch sanken sie tiefer, sondern verharrten unter der Oberfläche wie unter Wasser treibende Seelilien. Weiter unten konnte Arkadi das weiße Kleid der Mutter erkennen, das sich in der Strömung bauschte und leise bewegte, als wollte es dem Kind sein Lebewohl zuwinken.
    Dhaus kreuzten auf dem Wasser des Nils. Arkadi merkte, daß er aufgehört hatte, die Bilder auf dem Fernseher bewußt wahrzunehmen. Er schob den Brief vorsichtig wie ein Rasiermesser zurück in seine Jacke, dann nahm er das ägyptische Videoband aus dem Recorder und legte die Kassette aus München ein. Er schenkte dem Geschehen auf dem Bildschirm jetzt wieder mehr Aufmerksamkeit, denn er verstand ein wenig Deutsch und brauchte etwas, das ihn von dem Brief ablenkte.   Natürlich   betrachtete   er   die   Bilder mit russischen Augen.
    »Willkommen in München .«, begann das Band. Auf dem Bildschirm erschien ein Kupferstich, auf dem mittelalterliche Mönche dargestellt waren, die Sonnenblumen begossen, ein Wildschwein am Spieß brieten und Bier in sich hineinschütteten. Kein schlechtes Leben, offensichtlich. Die nächste Sequenz zeigte das moderne, wiederaufgebaute München. Der Sprecher brachte es fertig, diesen phönixhaften Wiederaufstieg zu kommentieren, ohne die beiden Weltkriege zu erwähnen. Er wies nur darauf hin, daß »traurige und tragische« Ereignisse die Stadt in Schutt und Asche gelegt hätten. München war von den Amerikanern befreit worden, und Arkadi hatte das Gefühl, einen amerikanischen Propagandafilm zu betrachten, als er die Bilder sah. Vom Glockenspiel und der Gestalt des Narren mit seiner Schellenkappe, die sich auf dem Marienplatz drehten, bis zu den Mauern des Alten Hofs - jede historische Stätte war bis zur Sterilität verniedlicht. Sonst waren praktisch nur Biergärten oder Bierkeller zu sehen, als sei Bier das Salböl der Unschuld, abgesehen von Hitlers Putsch im Bürgerbräukeller natürlich. Doch München war zweifellos attraktiv. Die Menschen sahen so wohlhabend aus und waren so gut gekleidet, daß sie von einem anderen Stern zu kommen schienen. Die Autos waren makellos sauber, und ihre Hupen klangen wie Jagdhörner. Schwäne und Enten tummelten sich auf den Seen und dem Fluß. Wann hatte er zum letztenmal einen Schwan in Moskau gesehen?
    »München ist eine Stadt, die geprägt ist von der Architektur königlicher Bauherren«, sagte der Sprecher. »Der Max-Joseph-Platz und das Nationaltheater wurden von König Max Joseph gebaut, die Ludwigstraße von seinem Sohn, Ludwig I., die >Goldene Meile< der Maximilianstraße von Ludwigs Sohn, König Max II., und die Prinzregentenstraße von seinem Bruder, dem Prinzregenten Luitpold.«
    Ah, aber werden wir den Bierkeller sehen, in dem Hitler und seine Braunhemden ihren ersten, fehlgeschlagenen Marsch zur Macht begannen? Werden wir den Platz sehen, an dem Göring die für Hitler bestimmte Kugel abbekam und damit das Herz seines Führers für immer gewann? Werden wir nach Dachau fahren? Nun, Münchens Geschichte ist so voll von Menschen und Ereignissen, daß sich nun einmal nicht alles auf ein Videoband bringen läßt. Arkadi gab zu, daß seine Einstellung unfair, verbittert und von Neid getrübt war.
    »Beim letzten Oktoberfest tranken die Teilnehmer über fünf Millionen Liter Bier und verzehrten siebenhunderttausend Hähnchen, siebzigtausend Eisbeine und siebzig gebratene Ochsen …«
    Sie sollten nach Moskau zur Diät kommen. Die fast pornographische Zurschaustellung von Lebensmitteln blendete Arkadis Augen. Nach einer Opernaufführung im Nationaltheater - »von einer auf Bier erhobenen Steuer errichtet« - Erfrischung in einem romantischen Bierkeller. Nach einer Spritztour über die Autobahn Erholung in einem Biergarten. Nach einer Alpenwanderung auf der Zugspitze ein wohlverdientes Bier in einem rustikalen Gasthaus.
    Arkadi hielt das Band an und ließ es zur Alpenwanderung zurücklaufen. Ein Blick auf das Gebirge, der hinüberschweift zu der von Schnee bedeckten Zugspitze. Bergwanderer in Lederhosen. Ein Edelweiß in

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