Das Labyrinth
schnell man sich erholt, wenn man jung ist. Er schenkte ihr ein weiteres Glas ein und trank selber eins. »Es ist der Wahnsinn, Polina. Dantes Inferno mit einer Schlange vor dem Brotladen. Wie wär’s mit einer Diätklinik in der Hölle?«
»Genau das richtige für Amerikaner«, sagte Polina. »Mit Aerobik-Kursen im Feuerschein.« Da war ein echtes Lächeln auf ihrem Gesicht, vielleicht, weil auch eines auf seinem war. Es genügte, gemeinsam den Wahnsinn zu erkennen. »Moskau könnte die Hölle sein, das hier könnte sie sein«, sagte sie.
»Guter Cognac.« Arkadi schenkte zwei weitere Gläser ein. Der Alkohol wirkte wie eine geballte Ladung auf seinen leeren Magen. »Zum Teufel«, sagte er. Er spürte, wie Feuchtigkeit aus seiner Kleidung aufstieg, und rief der Kellnerin zu: »Woraus besteht die Diät hier?«
»Kommt darauf an.« Sie schloß die Lippen um die Zigarette. »Ob Sie auf Fruchtdiät oder Gemüsediät sind.«
»Fruchtdiät? Hören Sie das, Polina? Was für Früchte?« fragte er.
»Ananas, Papayas, Mangos, Bananen.« Die Kellnerin ratterte sie herunter, als wären sie das selbstverständlichste auf der Welt.
»Papayas«, wiederholte Arkadi. »Für Papayas würden wir beide bestimmt liebend gern sieben oder acht Jahre anstehen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich weiß, wie eine Papaya aussieht, Polina. Ich wäre wahrscheinlich schon mit einer Kartoffel glücklich. Nur würde ich dann freilich kein Gewicht verlieren. Luxus ist für Leute wie Sie und mich reine Verschwendung. Könnten Sie uns eine Papaya zeigen?« fragte er die Kellnerin.
Sie musterte die beiden. »Nein.«
»Sie hat wahrscheinlich überhaupt keine«, sagte Arkadi. »Das sagt sie nur, um bei ihren Freunden Eindruck zu schinden. Fühlen Sie sich besser?«
»Ich lache, also muß ich mich wohl besser fühlen.«
»Ich habe Sie noch nie zuvor lachen hören. Klingt gut.«
»Ja.« Polina wiegte sich langsam vor und zurück. »In den Pathologiekursen pflegten wir einander zu fragen: >Was ist die schlimmste Art zu sterben?< Jetzt, nach Rudi, weiß ich die Antwort. Glauben Sie an die Hölle?«
»Darüber muß ich erst einmal nachdenken.«
»Sie sind wie der Teufel. Klammheimlich genießen Sie Ihre Arbeit, genießen es, die Verdammten am Kragen zu packen und fortzuschleppen. Deswegen arbeitet Jaak auch so gern für Sie.«
»Und warum arbeiten Sie für mich?«
Polina dachte einen Augenblick nach. »Sie lassen mich die Dinge tun, wie sie getan werden müssen. Sie gestatten mir, mich in meine Arbeit einzubringen.«
Arkadi wußte, daß genau da ihr Problem lag. Die Leichenhalle war ein Ort, an dem es nur Schwarz und Weiß gab, tot oder lebendig. Polina war zu analytischer Distanz ausgebildet worden, zu einem blinden Determinismus, der in einem Toten nichts anderes sah als einen kalten und leblosen Körper. Allerdings begannen Pathologen, die in die Ermittlungen außerhalb der Leichenhalle mit einbezogen wurden, die Körper wieder als lebende Wesen zu sehen, der Kadaver auf dem Seziertisch wurde zu einem Menschen, der einmal auf dieser Erde geatmet und gelitten hatte. Arkadi hatte Polina ihrer professionellen Distanz beraubt. In gewisser Weise hatte er sie korrumpiert.
»Weil Sie intelligent sind.« Arkadi beließ es dabei.
»Ich habe über das nachgedacht, was Sie mir gestern nacht gesagt haben. Kim hatte eine Schußwaffe. Warum also zwei verschiedene Arten von Bomben, um Rudi zu töten? Es war eine so komplizierte Methode, ihn umzubringen.«
»Es ging nicht nur darum, ihn umzubringen. Es ging darum, ihn zu verbrennen. All die Aufzeichnungen und Disketten, alles, was darauf hinwies, daß er in Verbindung mit jemandem stand. Ich bin mir dessen jetzt ganz sicher.«
»Ich bin also eine Hilfe für Sie.«
»Eine Heldin der Arbeit.« Er trank ihr zu.
Polina leerte ihr Glas und senkte den Blick.
»Ich habe gehört, daß Sie einmal fortgegangen sind«, sagte sie. »Da war eine Frau, wie ich hörte.«
»Wo hören Sie solche Sachen?«
»Sie weichen aus.«
»Ich weiß nicht, was die Leute über mich reden. Ich habe das Land für kurze Zeit verlassen und bin dann zurückgekommen.«
»Und die Frau?«
»Ist nicht zurückgekommen.«
»Wer hatte recht?« fragte Polina.
Das, dachte Arkadi, ist eine Frage, die nur sehr junge Menschen stellen können.
»Der sowjetische Verteidigungsminister«, sagte Irina, »hat zugegeben, daß sowjetische Truppen Zivilisten in Baku angegriffen haben, um den Sturz der kommunistischen aserbaidschanischen
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