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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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Brot gegen einen Zigarettenstummel tauschte – ein Zeichen, dass jeglicher Überlebenswille versiegt war. Eines Morgens, kurz vor dem Appell, sah ich ihn reglos unter seiner Decke liegen. Ich stieg auf die Pritsche und versuchte, ihn zu wecken. Wenn das Abzählergebnis nicht stimmte, mussten wir eine Stunde länger in der Kälte stehen. Sein Körper fühlte sich an wie aus Holz. Läuse saßen in seinem Auge. Er hatte die Minusgrade dieser Nacht nicht überlebt.
    Ich kletterte auf das Bett und zog ihm hastig die Jacke aus. Auf einmal tauchte der Kopf eines anderen Gefangenen vor mir auf. Er zerrte ebenfalls an der Jacke, ohne mich anzusehen. Ich versetzte seinem Gesicht einen Stoß mit dem Ellbogen. Er taumelte zurück, prallte gegen die andere Pritsche und landete unsanft auf dem Betonboden. Benommen blieb er liegen. Aus seiner Nase liefen Schleim und Blut. Ohne zu zögern, zog ich mir die Jacke des Toten an.
    Auf dem Marsch zur Arbeit sah ich in der Morgendämmerung eine Waldohreule auf einem Pfahl sitzen. Sie drehte den Kopf, breitete die Schwingen aus und flatterte mit kräftigen, geräuschlosen Flügelschlägen ins nahe gelegene Birkenwäldchen: eine fantastische Zurschaustellung von Kraft und Eleganz. Ich beschloss, den Tag mit diesem Moment beginnen zu lassen.
    Nachdem wir mehrere Zementsäcke geschleppt hatten, bekamen wir eine neue Aufgabe zugewiesen: das Fundament für ein neues Gebäude zu graben. Die SS hatte zwei Baukommandos zusammengelegt. Gemeinsam mit zig anderen schlug ich mit einer Spitzhacke auf den gefrorenen Boden ein. Das Metall schlug Funken. Ich bemühte mich, so wenig Kraft wie möglich aufzuwenden: Der Schwung der Hacke musste die Arbeit erledigen, sonst würde ich den Tag nicht überstehen.
    Armand arbeitete neben mir. In einem unglücklichen Moment rutschte ihm der Griff aus der Hand. »Merde!«, rief er eine Spur zu laut. Schweinz marschierte auf uns zu. »Was? Haben wir einen französischen Hund?«
    Armand bekam ein paar schnelle, harte Schläge auf den Kopf. Als Strafe dafür, in einem verkehrten Land geboren worden zu sein, als Nachfahre eines verkehrten Volkes. Ansonsten ließ Schweinz ihn in Ruhe. Er konnte es sich nicht erlauben, die kräftigsten Häftlinge zu hart anzufassen, denn sonst erfüllte er sein Arbeitspensum nicht. Wir arbeiteten einträchtig nebeneinander. Armands linkes Auge schwoll langsam an und verfärbte sich blauschwarz. Seine Braue war aufgeplatzt, an seiner Wange klebte geronnenes Blut.
    »Ein Jude und ein Franzose«, sagte ich. »Jetzt erzähl mir nicht, dass du auch noch Kommunist bist!«
    »Doch. Ich war in der Résistance.«
    »Gib mir nachher dein Stück Brot, oder ich verpfeife dich an den Kapo.«
    »Willst du außerdem meine Suppe?«
    Wir lachten heimlich. Armand fluchte erneut, aber leiser. Jede abrupte Bewegung bereitete ihm Schmerzen.
    Wir gruben weiter. Die Zeit arbeitete gegen uns. Sie verstrich zunehmend langsamer, als würden die Sekunden und Stunden in die Länge gezogen. Um zwölf Uhr bekamen wir Kohlsuppe, Brot und Wurst. Ich kaute, so lange wie möglich darauf herum. Ein Stück ranzige Margarine gehörte ebenfalls zu der Ration. Armand riet mir davon ab, das Zeug aufs Brot zu streichen.
    »Pour la peau, la peau!«
    Er fuhr sich über die Hand. Sollte ich die Margarine für die Hautpflege verwenden? Vorsichtig schmierte ich sie auf meinen Hals und meine Füße. Er nickte zufrieden und löffelte die lauwarme Suppe, ohne ein einziges Mal innezuhalten.
    » Famille? Hast du famille hier?«, fragte er auf einmal.
    »Nein. Du?«
    Er löffelte stur weiter und schüttelte kurz den Kopf. »Nicht mehr.« Nachdem er den letzten Rest Suppe vom Boden des Napfes abgeleckt hatte, stellte er ihn auf den Boden. Vorsichtig fuhr er sich mit den Händen über das Gesicht. Ich wartete, dass er weitersprach. »Eine Frau«, sagte er schließlich. »Und zwei Töchter. Disparu. Verschwunden. Charlotte, Esther und Evy.«
    Um eins fand der nächste Appell statt. Einige SS -Männer beratschlagten sich gerade untereinander. Einer von ihnen, ein Unteroffizier, stellte sich breitbeinig vor die Gruppe. Es war ein charismatischer, gut aussehender, athletisch gebauter Mann mit einem hochmütigen Blick.
    »Ihr seid mir zu viele«, sagte er laut. »Soweit ich weiß, sind die meisten von euch Neuankömmlinge. Ich brauche zehn Personen zur Versorgung der Schweine! Wer hat Erfahrung damit? Wer meldet sich dafür?«
    Überall um mich herum hoben Gefangene die Hand, so hoch wie

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