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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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wenig Routine gab. Wir hatten keine klar umschriebenen Aufgaben und zogen wie Nomaden über die Baustelle. In ers ter Linie mussten wir graben und schaufeln, um Fundamente auszuheben oder Latrinengruben. Trotz des aufblühenden Lebens um uns herum blieb der Tod allgegenwärtig. An die ständige Ungewissheit gewöhnte man sich nie.
    Anfang April standen drei Galgen auf dem Appellplatz. Ihre Umrisse hoben sich dunkel vom bleigrauen Abendhimmel ab. Nach einem sonnigen Morgen hatte es den ganzen Mittag geregnet, und auch jetzt schüttete es wie aus Kübeln. Ich war müde und durchgefroren. Als wir zum Appell antreten sollten, reagierte ich zu langsam, sodass ich weit vorn zu stehen kam.
    Das Lagerorchester mühte sich damit ab, eine Arie der Violetta aus Verdis La Traviata instrumental zu Gehör zu bringen. Die Musiker sahen aus wie ertränkte Katzen, und die Notenblätter auf den Holzständern waren bereits durchweicht. Große SS -Männer in langen Mänteln suchten unter riesigen Schirmen Schutz, die Untergebene über sie hielten. Auf dem Schafott des mittleren Galgens stand ein kleiner, gebückter Mann. Er war barfuß, und seine Hände waren gefesselt. Um seinen Hals hing ein Stück Pappe mit der Aufschrift: Hurra, hurra, ich bin wieder da. Er sollte hingerichtet werden. Aber warum drei Galgen?
    Ein letztes Baukommando schloss sich an. Das Orchester hörte auf zu spielen. Bis auf das Rauschen des Regens war es still. Endlich trat ein diensthabender SS -Offizier nach vorn.
    »Heute Abend«, sagte er laut, »haben drei Gefangene einen Fluchtversuch unternommen. Ihr kennt die Regeln. Auf Flucht steht die Todesstrafe. Einer von ihnen wurde sofort geschnappt. Die anderen beiden werden bald folgen.« Er machte eine Pause und brüllte dann: »Doch auf die beiden Flüchtigen warten wir nicht! Zwei andere Häftlinge werden noch heute ihre Stelle einnehmen! Damit im Namen des Führers auf jeden Fall drei Gefangene hingerichtet werden können.«
    Mich traf der Schlag. Plötzlich war alle Müdigkeit vergessen. Ich stand an einer äußerst ungünstigen Stelle.
    »Die Prozedur ist folgende«, fuhr der SS -Mann fort. »Sechs Gefangene werden ausgesucht. Wer am Ende dran ist, entscheidet das Los.«
    Drei SS -Männer schritten die Reihen ab. Wieder einmal entschieden sie über Leben und Tod. Nicht auffallen. Bloß nicht auffallen. Wie sollte ich schauen? Geradaus, ohne Blickkontakt aufzunehmen? War das nicht provozierend? Sollte ich mich lieber klein machen, den Kopf demütig senken? Oder wirkte ich dann zu sehr wie ein Opfer? Einer der SS -Männer schritt langsam meine Reihe ab und blieb stehen. Direkt vor mir. Regen tropfte von seinem Kinn. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
    »Du!«, schrie er.
    Er packte mich am Kragen meiner Jacke und zerrte mich nach vorn. Wie in Trance stellte ich mich vor den Galgen. Noch fünf Mal schallte das »Du!« über den Platz. Ein ausgewählter Häftling murmelte leise ein Gebet, ansonsten herrschte eine unheimliche Stille.
    Wir standen zu sechst nebeneinander. Meine durchweichte Lagerkleidung klebte mir am Leib. Der SS -Offizier wandte sich wieder den Reihen zu. Er hielt einen Würfel hoch. »Dieser Würfel wird entscheiden, welche Häftlinge hingerichtet werden.« Er gab jedem von uns eine Nummer. »Eins. Zwo. Drei. Vier. Fünf. Sechs.« Ich war Nummer vier. Zwei von uns würden innerhalb einer Viertelstunde tot sein.
    Der Offizier warf den Würfel in die Luft, fing ihn auf und legte ihn dann auf den Rücken seiner anderen Hand. Ich sah demonstrativ nach unten. Aus dem durchweichten Hosenbein meines Nachbarn lief Urin – die Pfütze neben seinen Füßen war dunkelgelb.
    »Zwei!«
    »Nein, nein«, jammerte der unglückliche Häftling. Er wehrte sich, aber zwei SS -Männer packten seine Arme und schleiften ihn zu einem der Galgen. Dann banden sie ihm die Hände auf den Rücken.
    Der Offizier nahm sich Zeit für eine zweite und letzte Runde. Meine Chancen standen jetzt eins zu fünf. Ich sah alles wie in Zeitlupe. Sah, wie der Würfel in die Luft flog und langsam herunterfiel. Sah, wie seine Hand langsam zur anderen Hand wanderte …
    »Fünf!«
    Derjenige, der sich in die Hose gemacht hatte, wankte und begann zu schluchzen. Er durfte am Leben bleiben. Der Mann rechts von mir hingegen hatte sein Todesurteil vernommen. Er sagte nichts. In sein Schicksal ergeben, ließ er sich zum letzten Galgen führen.
    Das Orchester fing an zu spielen. Wieder Verdi, wieder et was aus La Traviata. Es klang

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