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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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abgerissen hatte. Die Rückseite war unbedruckt und schmutzig, aber man konnte darauf schreiben. Einen Stift besaß er auch, sogar einen teuren Füller.
    Ein Brief. Was wollte ich ihr sagen? Nicht nachdenken, schreiben, einfach nur schreiben.
    Liebe Helena,
    ich habe dich nicht vergessen. Wie auch – dein Name hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich gebe diesen Brief dem Freund eines Freundes mit. Ich möchte schöne Sätze und schöne Gedanken zu Papier bringen, merke aber, wie schwer mir das fällt. Deinetwegen möchte ich die Reise nicht missen. Damit genug für heute. Vergib mir meine Torheit.
    Ich hoffe, es geht dir gut, Helena. Wir werden uns wiedersehen, das verspreche ich dir. Schreib schnell und verlier nicht den Mut.
    Ernst H.
    12
    Ich empfand so etwas wie Vorfreude. Oder besser gesagt, ich hatte wieder Mut und Hoffnung, zwei Wörter, die laut Schlomo so unzertrennlich waren wie siamesische Zwillinge: Ohne Mut keine Hoffnung. Ohne Hoffnung kein Mut. Ich wusste nur nicht, worin die Hoffnung bestand. Das Wichtigste war natürlich, zu überleben, trotzdem fand ich es vernünftiger, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen, damit diese realistisch blieben: Das konnte eine Extraration Brot sein. Drei Fleischbrocken in der Suppe. Das Ende des Tages, das Ende eines Tages ohne Verletzung. Das Ende der Nacht ohne Albtraum. Oder ein Traum, in dem man wieder Frau und Kinder umarmt. Ein Brief von einer Geliebten.
    Es war Sonntag. Sogar am Arsch der Welt war das ein Feiertag. Viele Häftlinge blieben in der Baracke, um sich auszuruhen. Ich saß bei Schlomo im Büro, um mich vorzubereiten. Um vier Uhr würde ich auftreten. Das war der ruhigste und sicherste Moment der ganzen Woche. Am Sonntagnachmittag saßen die meisten Deutschen in der Lagerkantine und tranken Bier oder Schnaps.
    Wie sollte ich die Sache angehen?
    Humor ist eine Flucht. Diesen Satz hatte ich schon oft gehört. Ich fragte mich, ob der Mensch dem Leid entfliehen kann, indem er einfach mit einem Lachen darüber hinweggeht. Oder muss man die Qualen erst durchleiden, um sie endgültig hinter sich lassen zu können? Ist das Lachen nur dann gerechtfertigt? Ist Humor erst dann Humor, wenn es sich um verarbeitetes Leid handelt?
    Ich vermisste meinen Vater. Bei jeder Vorstellung bot mir sein Foto auf dem Schminktisch Halt und Trost zugleich: Kein Publikum konnte schwieriger sein als er. Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Ich machte mir Sorgen über die Verkehrssprache. Jiddisch sprach ich nicht, besser gesagt kaum. Englisch war eine zu große Provokation. Deutsch war das Nächstliegende, die meisten Osteuropäer verstanden es leidlich, zur Not mithilfe eines Dolmetschers. Aber für meine Premiere hatte ich eine bessere Idee: die Universalsprache der Pantomime. Vor dem Krieg hatte ich mich ausgiebig mit Charlie Chaplin beschäftigt. Unser Bühnenmeister Henri Toussaint hatte mich mit Meneer Abraham Tuschinski vom Kino in der Reguliersbreestraat bekannt gemacht. Drei Vormittage hintereinander durfte ich mir Modern Times von Charlie Chaplin ansehen. Er machte mit dem linken Bein einen Schritt nach vorn und ließ das rechte folgen, aber nicht ganz: auf diese Weise entstand sein Watschelgang. Den Spazierstock in seiner Linken schwenkte er im Takt dazu. Chaplin beherrschte die Kunst der Körpersprache wie kein anderer.
    Schlomo war begeistert. Er wollte sich um mein Kostüm kümmern. Aber in den darauffolgenden Tagen wurde ihm zu seinem großen Leidwesen bewusst, dass er nur über unzureichende Tauschmittel verfügte. Die Hälfte der Utensilien hatte er organisieren können: Die Melone ja, den Spazierstock nein. Die Weste ja, die Hose nein. Er hatte alles aufbieten müssen, nicht nur einen, sondern zwei Schuhe zu bekommen. Ich war hochzufrieden, vor allem mit der alten Melone.
    Statt eines Spazierstocks wollte ich mir einen Birkenast aus dem Wald hinter dem Lager holen. Bei den Baracken herrschte eine fast schon ländliche Ruhe, so wie sich das für einen frühen Sonntagnachmittag gehört. Im Waschraum waren einzelne Gefangene damit beschäftigt, Kleidung zu entlausen und zu waschen – mit Seife, die einfach nicht schäumen wollte. Überall gab es Schlammpfützen, denen ich im Zickzackkurs auswich.
    Manchmal hörte ich aus der Ferne ein Johlen und Klatschen. Von Armand wusste ich, dass im Außenlager hinter den Baracken Fußball gespielt wurde. Auf dem Boden hatte man provisorische Kalklinien gezogen, Hunderte von Häftlingen umstanden das Feld.

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