Das Lachen und der Tod (German Edition)
erklärte mir Emil. Die meisten Mitglieder des Kommandos waren damit beschäftigt, sich auf den Empfang eines neuen Konvois aus Budapest vorzubereiten. Die Öfen brannten Tag und Nacht. Ich fragte nicht nach Einzelheiten – die würden sich mir bestimmt bald von ganz allein enthüllen. Angesichts der Privi legien und der Weinflaschen wagte ich es kaum, über die Gegenleistung nachzudenken, darüber, worin die Arbeit bestand. Ich führte mir die Vorteile vor Augen, solange das noch ging: Ich musste nicht vor der SS auftreten. Ich lebte noch. Ich konnte mir einfach so einen Apfel nehmen. Einen Apfel. Für die ersten Menschen war das eine verbotene Frucht, aber ich biss, ohne zu zögern, hinein. Ich schmeckte eine köstliche, saftige Süße. Es war ohnehin egal: Aus dem Paradies war ich schließlich längst vertrieben worden. Und mit mir die gesamte Menschheit.
Gegen Mittag traf der Transport ein. Vom Dachfenster aus konnte ich die Ankunft der Menschen beobachten: eine lange Schlange von Kindern, Frauen, Älteren in dicken Mänteln mit Hüten, Kopftüchern, Spazierstöcken und Taschen. Das Orchester spielte den Radetzkymarsch. Die Musiker sah ich nur von hinten. Sie schielten auf die Noten auf dem Notenständer und spielten, als hinge ihr Leben davon ab.
Emil gab mir ein Zeichen. Wir liefen die Treppe hinunter in den Keller, in einen Lagerraum, wo Kisten mit Seife und Hunderte schlampig zusammengefaltete Handtücher lagen. Eine Tür weiter befand sich der sogenannte Auskleideraum, ein großes Quadrat von etwa acht mal acht Metern, das in der Mitte von vier Betonpfählen gestützt wurde. Fensterlos und mit einer niedrigen Decke . An den Wänden standen Holzbänke, darüber hingen nummerierte Kleiderhaken. Vom Auskleideraum gelange man in die Duschräume, so Emil. Rechts der große Saal, der »Bunker«, links ein kleinerer. Er sagte das völlig ungerührt, vollkommen gefühllos, doch mir blieb beinahe das Herz stehen.
Vier SS -Leute lehnten an der Wand. Sechs Mitglieder des Sonderkommandos in gestreifter Lagerkleidung saßen nebeneinander auf einer Bank und warteten. Einige sprachen eine Sprache, die ich nicht verstand. »Ungarn«, sagte Emil. In erster Linie würden sie die Neuankömmlinge begleiten.
Von draußen führte eine breite Steintreppe zum Kellereingang. Als Erster kam ein alter Mann in einem schwarzen Mantel herein. Er stützte sich auf einen Spazierstock aus lackiertem Holz mit einem gebogenen Knauf. Er blieb stehen und strich erschöpft über seinen silbergrauen Schnurr- und Stoppelbart. Er nahm seinen Hut ab und lockerte seinen Wollschal. Hinter ihm tauchte seine Frau auf, sie trug ein dunkelblaues Kopftuch und hatte ein faltenzerfurchtes Gesicht. Sie setzte sich auf eine Bank, zog ihren Wintermantel aus und seufzte tief. Ich fragte mich, wie lange diese Menschen wohl im Zug gestanden hatten. Bestimmt einen ganzen Tag, wenn nicht länger.
Langsam füllte sich der Raum. Eine Mutter hielt ein weinendes Mädchen auf dem Arm, während sich zwei Jungen mit großen Schiebermützen an ihren Mantel klammerten. Verzweifelt versuchte sie ihre Tochter zu beruhigen. Einer der ungarischen Juden vom Sonderkommando bot dem Kind eine Lumpenpuppe an, aber es wies sie zurück. Die beiden Jungen bekamen ein Spielzeugauto. Der Menschenstrom riss nicht ab, es waren Aberhunderte. Die Männer des Sonderkommandos gingen durch die Menge und teilten Handtücher aus. Sie gaben laute Anweisungen. Zwei von ihnen sprachen Deutsch, sodass ich verstehen konnte, was sie sagten: »Sie werden zuerst einmal duschen. Ziehen Sie sich so schnell wie möglich aus, anschließend werden Sie wieder mit Ihrer Familie zusammengeführt. Binden Sie Ihre Schuhe an den Schnürsenkeln zusammen und merken Sie sich die Nummer Ihres Kleiderhakens.« Sie bemühten sich, freundlich zu sein, klangen aber vor allem routiniert.
Emil zeigte auf eine elegante, etwa sechzigjährige Frau mit hochgestecktem Haar. Kerzengerade saß sie auf der Bank mitsamt ihren Kleidern. Nur den Mantel hatte sie ausgezogen. Sie war von schlanker Figur, trug eine weiße Seidenbluse mit Rüschen und einen senfgelben Schal.
»Ich kenne sie«, sagte Emil. »Sie ist eine bekannte ungarische Ballettlehrerin aus Budapest – früher war sie Ballerina. Eva Mandelbaum. Meine Schwester hatte noch bei ihr Unterricht.«
»Ausziehen!«, schrie ein SS -Mann sie an. Sie ignorierte ihn. Ein Ungar des Sonderkommandos setzte sich zu ihr und begann auf sie einzureden. Sie schüttelte den Kopf und
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